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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Autoren: Nancy Bilyeau
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erschüttert. Ich habe etwas von ihrem wahren Wesen gesehen. Sie hat mir mehr gezeigt als jedem anderen, aber nicht genug. Wenn ich nicht so dumm und blind gewesen wäre, hätte ich ihr helfen und diese Gewalt verhindern können.«
    Gregory setzte sich neben mich. Die Kiste knarrte unter unser beider Gewicht. »Man kann Stunden, Tage, Wochen und Jahre mit einem anderen Menschen verbringen und ihn doch niemals ganz verstehen. Glaubt mir, ich weiß es. Und Ihr, Ihr seid weder dumm noch blind. Ihr seid die klügste und mutigste Frau, die ich kenne.«
    Er legte seinen Arm um mich, und ich überließ mich der tröstenden Kraft seiner Umarmung.
    Was dann kam, geschah so schnell, dass es mir den Atem verschlug. Am ehesten war es einem Versinken in tiefem Wasser zu vergleichen. Ich konnte nicht schwimmen, aber als Kind war ich einmal in einen See gefallen, und mein Vater hatte mich nur Sekunden später herausgeholt. Aber ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, von einer unwiderstehlichen Kraft in die Tiefe gezogen zu werden.
    Ich hätte Geoffrey abwehren müssen, stattdessen erwiderte ich seine Küsse. Ich vergaß meine Gelübde. Ich drückte mich an ihn; ich griff in sein Haar; ich suchte seinen Mund. Ich wartete darauf, dass Abscheu mich erfassen würde; aber das geschah nicht.
    Ich spürte seine Erregung, seine Leidenschaft, aber ich nahm auch seine Erfahrenheit wahr. Nichts Unbeholfenes war an seinen Liebkosungen. Wie ein Stich traf mich die Gewissheit, dass er schon früher Frauen geliebt hatte.
    Ich zog mich von ihm zurück. Wir saßen beide wie betäubt und sprachlos da. Tiefe Enttäuschung über mein Verhalten stieg in mir auf. Ich war erschüttert über das, was ich getan hatte.
    Geoffreys leicht ironisches Lachen riss mich aus meiner Benommenheit. »Wenn Ihr wüsstet, wie genau ich das alles geplant hatte,die einzelnen Schritte   – vorsichtig, um Euch nur ja nicht zu verschrecken. Alles schicklich und mit Respekt. Und dann fallen wir übereinander her? Ach, Joanna, wo bleibt bei uns nur die Vernunft?«
    Mir fiel auf, dass er mich nicht ›Schwester‹ genannt hatte. Das versetzte mir einen neuen Stich.
    Er nahm meine Hand und hielt sie vorsichtig. »Ihr scheint mir nicht sehr begeistert über die bevorstehende Rückkehr zu Eurer Familie. Joanna, ich muss wissen, welche Vorstellung Ihr von der Zukunft habt.«
    »Keine«, flüsterte ich. »Ich habe keine Vorstellung.«
    »Ist es möglich, dass Eure Zukunft   …« Geoffrey war so nervös, wie ich ihn nie gesehen hatte, nicht einmal, als wir im Boot zum Tower gesessen hatten.
    »Sagt nicht mehr«, flehte ich ihn an. »Bitte.«
    Er zog seine Hand fort und stand auf.
    »Wie töricht von mir zu glauben, Ihr könntet mich auch nur in Betracht ziehen«, sagte er, und die Röte stieg ihm ins Gesicht. »Ich stehe im gesellschaftlichen Rang weit unter Euch. Ihr stammt von Königen ab. Ich habe Euren Vater gesehen. Wenn Ihr
meinen
Vater kennen würdet   …« Er schüttelte den Kopf.
    »Glaubt Ihr das von mir?«, fragte ich aufgebracht. »Dass ich einen Menschen wegen seiner Geburt verachten würde?«
    Geoffrey sagte nichts.
    »Das ist es nicht.« Tränen der Enttäuschung brannten in meinen Augen. »Ach, Geoffrey, es ist das Feuer, das in meiner Seele brennt. Ich habe ein Gelübde abgelegt, eine Braut Christi zu sein   – es war mein innigster Wunsch, der Weg, den ich gewählt und zu gehen versucht habe. Es war eine Verpflichtung. Wenn Ihr das nicht versteht, versteht Ihr
mich
nicht.«
    Geoffrey betrachtete mich forschend, mit einem traurigen Lächeln um den Mund. »Nein, ich verstehe Euch nicht, Joanna Stafford. Und dennoch ist mein Gefühl für Euch tiefer und inniger als für jede Frau, die ich je gekannt habe.«
    Er ging langsam zur Stalltür. Dort blieb er noch einmal stehen. »Ganz gleich, was Ihr beschließt oder wohin Ihr geht, ich glaube nicht, dass sich daran je etwas ändern wird.«
    Tränen stürzten mir aus den Augen. Laut schluchzend wiegte ich mich vor und zurück. So heftig hatte ich seit dem Tod meines Vaters nicht mehr geweint. Ich weinte über meine Schwäche, und ich weinte darüber, dass ich Geoffrey verletzt hatte. Etwas in mir drängte mich, hinauszulaufen aus dem Stall, zur Straße nach Rochester, und ihn zu bitten, mich mitzunehmen. Aber ich tat es nicht. Allmählich ließ mein Weinen nach. Etwas Seltsames fiel mir auf. Ich war erleichtert. Ich war voller Kummer, und doch fühlte ich mich zugleich wie befreit.
    Es dauerte lange, aber
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