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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune
Autoren: Nicolas Remin
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Seiten eines Manuskripts zu lesen, das er
zusammengerollt in der Hand gehalten hatte. Sie hatte es zweimal
überflogen, ohne schlau daraus zu werden.
    Dem Manuskript fehlte
der Anfang und das Ende. Der Text begann mitten im Satz und brach
vier Seiten später abrupt ab. Offenbar ging es um einen
Gegenstand, der auf einem Segelschiff nach Venedig gebracht worden
war. Worum es sich dabei handelte, blieb unklar. Vom deutschen
Kaiser war die Rede, vom Papst, von Galeeren und von der Eroberung
einer orientalischen Stadt. Elisabeth musste unwillkürlich an
die Romane von Sir Walter Scott denken, die sie immer gerne gelesen
hatte. Heart
of Midlothian! Wunderbar! Verfasste Franz Joseph
jetzt heimlich historische Romane? Wollte er ihr Urteil über
seine schriftstellerischen Künste hören? War er deshalb
so aufgeregt?
    Die Kaiserin legte die
Bögen auf den Tisch und warf einen prüfenden Blick auf
ihren Gemahl. Dessen Gesicht hatte sich gerötet, und seine
Oberlippe vibrierte. Das tat sie immer, wenn der Kaiser nervös
war. So hatte er ausgesehen, als er in Bad Ischl um ihre Hand
angehalten hatte.
    Franz Joseph wischte
sich den Mund ab, ein wenig Eigelb blieb an seinem Backenbart
hängen. Dann beugte er sich über den Tisch und sah sie
gespannt an. «Was sagst du
dazu?»          
    Elisabeth
lächelte. Sie war fest entschlossen, die kaiserlichen
Gefühle zu schonen. Ihre letzte Schneiderrechnung war enorm
gewesen. Noch enormer als die vorletzte. Sie stieß einen
tragischen Seufzer aus. Warum brachte sie es nie fertig, ihr Budget
einzuhalten? Andererseits gab der Kaiser für seine Soldaten
erheblich mehr aus als sie für ihre Garderobe. Und bei ihr kam wenigstens etwas
heraus. Sie nahm sich vor, den Kaiser notfalls darauf
hinzuweisen.
    «Dein Text liest
sich interessant», sagte die Kaiserin, indem sie kennerisch
den Kopf wiegte. «Zumal der Leser gerne wissen würde,
worum es sich bei diesem Gegenstand, um den es hier geht,
eigentlich handelt. Und dann gefällt mir dieses raffinierte
mittelalterliche Kolorit.»
    Franz Joseph lachte.
«Kein Wunder, dass der Text dieses Kolorit hat. Er ist
schließlich im 13. Jahrhundert verfasst
worden.»
    Wie bitte? Im 13. Jahrhundert
verfasst? Das war ein Satz, der keinen
rechten Sinn ergab. Elisabeth sagte: «Ich kann dir nicht ganz
folgen, Franzi.»
    «Es handelt sich
um eine Übersetzung aus dem Lateinischen. Von Hofrat Lodron
höchstpersönlich angefertigt», sagte der
Kaiser.
    «Dem Direktor
der Wiener Hofbibliothek?»
    Der Kaiser nickte.
«Es gibt nur ein einziges Exemplar davon. Wir hielten es
für besser, so wenige Personen wie möglich in die
Geschichte einzuweihen.»
    Also war der Kaiser
nicht unter die Schriftsteller gegangen. Darin lag in jedem Fall
ein Gewinn für die österreichische Literatur, es machte
diese Angelegenheit aber nicht viel klarer. «In welche
Geschichte?»
    «Sie beginnt in
Venedig, und indirekt betrifft sie auch deinen alten Freund, den
Kommissar.»
    «Commissario
Tron?»
    Der Kaiser nickte.
«Ein Vorfahre von ihm, Zanetto Tron, hat am vierten Kreuzzug
teilgenommen und offenbar ein Tagebuch verfasst. Er war
Sekretär des Dogen Enrico Dandolo. Wir haben hier ein Fragment
aus dem Schluss der Aufzeichnungen.»
    Elisabeth, historisch
seit jeher gut orientiert, war sofort im Bild. «Der Kreuzzug,
der ursprünglich nach Ägypten gehen sollte und den die
Venezianer nach Byzanz umgeleitet haben? Und der mit der
Plünderung der Stadt endete?»
    Franz Joseph
lächelte zynisch. «Des größten
Handelskonkurrenten der Venezianer im östlichen
Mittelmeer.»
    «Wie sind wir an
dieses Fragment gekommen?»
    «Ein englischer
Historiker hat dieses Tagebuch in der Biblioteca Marciana entdeckt.
Da es Hinweise darauf gab, dass sich Teile auch in Wien befinden
könnten, hat er Lodron gebeten, in der Hofbibliothek
nachzuforschen, und Lodron ist tatsächlich fündig
geworden.»
    «Dann wird der
Engländer sich freuen.»
    «Kaum. Lodron
hat ihm bereits mitgeteilt, dass die Suche nichts ergeben
hat.»
    «Warum lügt
er?»
    «Offenbar hast
du das Wichtigste überlesen.»
    Elisabeth runzelte die
Stirn. Was konnte sie überlesen haben? Der Text war ziemlich
simpel und eindeutig. Er handelte von der Rückreise Zanetto
Trons auf einer venezianischen Galeere. Lediglich in Bezug auf das
Gepäck gab es ein paar unklare Passagen, ein paar Wörter,
die auf den ersten Blick keinen Sinn ergaben. Zanetto Tron schien
bei der Plünderung von Byzanz etwas erbeutet zu haben -
aber
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