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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune
Autoren: Nicolas Remin
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aus einem
Filztuch wickelte und sie vorsichtig zwischen der blakenden
Petroleumlampe und dem Kaffee mit der Eisschicht
abstellte.
    Das Gefäß
war viel unscheinbarer, als er es sich vorgestellt hatte - kein
goldener, mit Rubinen besetzter Pokal, sondern ein Gefäß
aus mattiertem Glas, das ein wenig an einen profanen Eisbecher
denken ließ. Es war ein schlichter, ein wenig plump wirkender
Kelch, bestehend aus zwei Halbschalen, einer großen und einer
kleinen. Die kleine diente offenbar als Fuß, die große
war dazu benutzt worden, das liquidum aufzunehmen. Er beugte
sich über den Tisch, streckte die Hand aus und spürte die
leichte Wärme, die das Gefäß ausstrahlte. Als sein
Zeigefinger den Rand berührte, hatte er plötzlich eine
Vision. Er stand am Fuß eines sonnenbeschienenen Hügels
und sah im Gegenlicht die gekreuzten Balken. Und er sah den Mann,
der sich durch die Menge drängte. In der Hand trug der Mann
einen Kelch, und gleich würde er ...
    Die Stimme Petrellis
rief ihn wieder in die Gegenwart zurück. «Ist es das,
was Sie wollten?»
    Ja, es war genau das,
was er wollte. Sein Puls beschleunigte sich, und eine Hitzewelle
überflutete sein Gesicht. «Es sieht ganz danach
aus», sagte er.
    Petrelli schien seine
Erregung bemerkt zu haben. Er sah ihn besorgt an. «Was ist
das für ein Kelch?»
    Die Frage lag auf der
Hand. Warum sollte jemand eine enorme Summe für die
Beschaffung eines alten Pokals ausgeben, wenn es damit nicht eine
ganz spezielle Bewandtnis hatte? Draußen hatte sich der
kräftige Nordwind zu einem Sturm gesteigert, und mit
knisterndem Rauschen wehten die Eiskristalle gegen die Scheibe.
Plötzlich traf ein harter Windstoß das Fenster. Eis
splitterte von der Scheibe und fiel klirrend zu Boden. «Eine
Art Eisbecher», sagte er knapp. Das war eine alberne Antwort,
aber sie stellte klar, dass er nicht die Absicht hatte, Petrelli in
die Hintergründe seines Auftrags einzuweihen.
    Der hatte verstanden
und wechselte sofort das Thema. «Haben Sie auch
...»
    «An das Geld
gedacht?» Er lächelte wohlwollend.
«Selbstverständlich, Petrelli.»
    Er griff in die Tasche
seines Mantels, zog den Beutel aus Ziegenleder hervor und
schüttelte ihn lachend. Es war der charakteristische Klang zu
hören, den echte Goldmünzen erzeugen, wenn sie
aneinanderstoßen. «Nehmen Sie Platz und zählen Sie
nach, Petrelli.»
    Einen Moment kam eine
fast ausgelassene Stimmung auf - zwischen zwei cavalieri, die ein heikles
Geschäft erfolgreich abgeschlossen hatten und sich nun der
Früchte ihres Fleißes erfreuten. Petrelli pfiff sogar
vor sich hin, während er die Münzen abzählte - ein
Wiener Fiakerlied mit dem Refrain Alle Neune.
    Er trat hinter
Petrelli, steckte die Hand in die Manteltasche und spürte den
glatten Perlmuttgriff an seinen Fingern. Durch Petrellis nass
anliegende Haare hindurch konnte er die Stelle über dem linken
Ohr sehen, in die er die Kugel feuern würde. Er zog die Waffe
ohne Hast aus der Manteltasche, setzte sie ebenso ruhig an und
drückte ab. Es machte paff - ein Geräusch, das der
tosende Sturm vor den Fenstern mühelos verschluckte -, und ein
schwacher Korditgeruch verbreitete sich in der
Küche.
    Die Durchschlagskraft
einer Derringer ist mäßig. Petrellis Schädel wurde
nicht abrupt zur Seite geschleudert. Sein Kopf neigte sich
lediglich ein Stück nach links, um anschließend mit
einem dumpfen Krachen auf den Tisch zu fallen. Seine Arme hingen
zuckend von der Tischplatte, und er gab röchelnde
Geräusche von sich. Er sah aus wie ein Zecher, der über
den Durst getrunken hatte.
    Er drehte Petrellis
Kopf zur Seite und setzte die Waffe zum Fangschuss auf das linke
Auge - paff. Petrellis Körper zuckte noch
einmal, dann setzte der Atem aus. Merkwürdig, dachte er,
während er die Derringer wieder in der Manteltasche
verschwinden ließ - merkwürdig, dass er nicht das
Gefühl hatte, etwas Unrechtes getan zu haben. Vollzog er nicht
den Willen des Herrn? Und schien jetzt nicht ein Schimmer über Petrellis
Wohnung zu liegen? Nicht dass es ihn überraschte. Vor mehr als
einem halben Jahrtausend hatte die Gnade des
Herrn über Zanetto Tron geleuchtet. Heute hatte der
Allmächtige ihm einen Abglanz
gegönnt.
    Er nahm den Kelch vom
Tisch, schlug ihn sorgfältig in das Filztuch ein und verstaute
ihn in Petrellis Beutel. Dann durchquerte er den kleinen Flur und
stieß die Haustür auf. Der eisige Sturm traf ihn mit
überraschender Wucht, und er musste alle Kraft aufbieten, um
die Tür so weit zu
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