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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes
Autoren: Jaime Manrique
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eine größere Summe bitten. Wie jeder gute Kastilier war er sparsam. Meine einzige Hoffnung war mein Großvater Carlos Lara. Papá Carlos schlug mir keinen Wunsch ab. Da ich seine Großzügigkeit kannte und zu schätzen wusste, nahm ich sie nur selten in Anspruch. Er war nicht in seinem Zimmer. Auch in der Bibliothek fand ich ihn nicht. Als nächstes suchte ich ihn in der Familienkapelle, in der er zweimal am Tag die Andacht verrichtete. Ich spähte durchs Schlüsselloch und entdeckte ihn, wie er dort kniete und mit verschränkten Händen und gesenktem Kopf ins Gebet vertieft war. Während ich vor der Tür wartete, befürchtete ich, meine Eltern könnten mich dort stehen sehen und nach einer Erklärung verlangen. Damit die Zeit schneller verging, trat ich von einem Fuß auf den anderen. Sobald Papá Carlos die Kapelle verließ, ganz abgeklärt von seiner Versenkung ins Morgengebet, überfiel ich ihn ohne jede Einleitung mit meinem Anliegen: » Papá Carlos, ich brauche Geld, um einem Freund zu helfen, der in großer Gefahr ist.«
    »Ist es für Miguel Cervantes?«, fragte er. Er wirkte nicht im Geringsten überrascht.
    Ich nickte. Papá Carlos hatte meine wachsende Nähe zu Miguel von Anfang an mit Sorge beobachtet.
    »Zu der Zeit, als unsere Monarchen in Valladolid Hof hielten, kannte ich den Großvater des Jungen recht gut«, sagte er. »Glaub mir, Enkel schlagen immer nach dem Großvater. Juan Cervantes gab das Geld mit beiden Händen aus: Sklaven, Pferde, Kleider, die auch einem Adeligen zu Gesicht gestanden hätten. Er war ein Tuchmacher, ein einfacher Mann, der sich dünkte, etwas Besseres zu sein, der verächtlich auf seine jüdischen Mitbrüder hinabsah und sich mit den Reichen, den Mächtigen, dem christlichen Adel befreunden wollte.« Er schüttelte den Kopf, seine Augen verengten sich. »Sicher, gegen Ende seines Lebens war er angesehen und wohlhabend. Man mag sich nicht vorstellen, wie er zu dieser hohen Stellung gelangt ist.« Mein Großvater betonte jedes Wort, wie immer, wenn er mich eine Lektion über das Leben lehrte. »Er war ein typisches Mitglied seiner vaterlandslosen jüdischen Rasse. Luis, wir Christen täten gut daran, Abstand zu diesen Menschen mit dem Makel zu halten.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mir direkt in die Augen. »Du darfst nie vergessen: Auch wenn ein Jude schwört, er sei ein frommer Christ – im Grunde seines Herzens bleibt er doch ein Jude, selbst Jahrhunderte nach der sogenannten Konvertierung.«
    Ich hatte nichts gegen die konvertierten Juden. Im Gegenteil, das geheime Leben der conversos faszinierte mich. Außerdem hatten Miguel und ich von Anfang an so viele beglückende Momente miteinander erlebt, dass ich mich meinen Eltern widersetzt hätte – auch wenn ich ihnen sonst gehorchte und sie achtete, wie es sich gehörte –, hätten sie unsere Freundschaft verboten. Trotz seiner Missbilligung lag nicht einmal im Blick meines Großvaters der mindeste Vorwurf. »Komm mit«, sagte er nur.
    Ich folgte Papá Carlos in sein Schlafgemach, und dort öffnete er eine kleine Holztruhe mit einer maurischen Einlegearbeit aus Elfenbein von der Art, wie die Handwerker in Toledo sie herstellten. Er nahm eine Handvoll Münzen heraus und zählte sechzig Gold escudos in einen Lederbeutel. Kein weiteres Wort wurde darüber gesprochen, weder damals noch später. Mir war klar, dass diese außerordentliche Großzügigkeit auf den unausgesprochenen Wunsch meines Großvaters zurückging, Miguel möge mit dem Geld ganz, ganz weit fort von mir und Spanien reisen, damit ich seinem Einfluss entkäme. Die Münzen genügten zweifellos, um ihm eine Überfahrt in die Neue Welt zu bezahlen, in die zu reisen er sich immer schon gewünscht hatte.
    Ich hatte Miguel am Estudio de la Villa kennengelernt, der städtischen Schule in Madrid, an der sich die Studenten für die Aufnahme an der Universität vorbereiteten. Zwei Jahre lang war Miguel der Bruder, den ich nie gehabt hatte. Zwei Jahre lang – in der Zeit der Jugend, wenn man die reinsten Träume hat und kein Traum zu tollkühn erscheint, um unerreichbar zu sein – hatten wir uns zusammen der Hoffnung hingegeben, Dichter und Soldaten zu werden, wie viele der großen spanischen Dichtersoldaten, etwa der von uns verehrte Garcilaso de la Vega. Diese zwei Jahre lang, bevor ich zwanzig wurde, beglückte Miguel und mich die Verwandtschaft unserer Seelen. Jeder nannte uns »die zwei Freunde«. Unsere Freundschaft war für mich der
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