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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes
Autoren: Jaime Manrique
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Inbegriff der ethischen Verbindung von Seelen, wie Aristoteles sie in seiner Nikomachischen Ethik beschreibt. Dieses antike Ideal der Freundschaft war eines der Ziele, die ich mir für mein Leben gesetzt hatte.
    Zur Herrschaftszeit Felipes II. war Madrid ein Dorf. Bald nachdem Miguels Familie aus Sevilla zugezogen war, hörte man gerüchtehalber, sein Vater, Don Rodrigo Cervantes, habe mehrmals im Kerker eingesessen, weil er Schulden nicht habe begleichen können. Und ein zweites, noch schändlicheres Gerücht ging der Familie voraus.
    Meine Lehrer und Klassenkameraden am Estudio de la Villa schätzten mich außerordentlich. Das Lernen fiel mir leicht, Wissen besaß in meiner Familie einen hohen Stellenwert. Man ging davon aus, dass ich nach La Villa die Universität Cisneriana in Alcalá besuchen würde, wo viele Söhne aus den besten kastilischen Familien Theologie, Medizin, Literatur und andere einem Hidalgo angemessene Professionen studierten, um dann ihren Platz in der Welt einzunehmen.
    Miguel schrieb sich während meines letzten Jahres an La Villa ein. Sein Vater musste eine einflussreiche Verbindung genutzt haben, damit er überhaupt aufgenommen wurde. Im Gegensatz zu uns anderen war Miguel nicht zum caballero erzogen. Im Kreis der edelsten jungen Männer Kastiliens – der Welt – nahm er sich aus wie ein wildes Fohlen in einem Stall von Vollblütern. Ein Mensch wie er war mir noch nie zuvor begegnet. Wegen seiner Ausgelassenheit, seines unkultivierten Charmes und seines extrovertierten Wesens erhielt er den Spitznamen El andaluz . Und wie ein Andalusier sprach Miguel auch, so als beherrsche er das Kastilische noch nicht ganz: Von jedem Wort hackte er die letzte Silbe ab, seine Aussprache war hart –so, wie in meinen Ohren Arabisch klang. Miguel hatte den stolzen Gang, das Feuer und die Spontaneität der Menschen aus dem Süden, die man nicht als echte Iberer bezeichnen konnte, denn in ihren Adern floss eine Mischung von spanischem und maurischem Blut. Er verhielt sich so, als wüsste er nicht, ob er sich als Zigeuner oder als Adeliger geben sollte – beide Rollen spielte er nur. Er besaß das Selbstbewusstsein eines Adeligen, gleichzeitig aber auch den wilden Übermut und das Naturell der Zigeuner, die jedes Frühjahr mit den Schwärmen zwitschernder Sperlinge in Madrid eintrafen und, sobald das Laub der madroños vom ersten Gold bestäubt wurde, ins wärmere Klima Andalusiens flohen.
    Miguel machte einen unvergesslichen Eindruck auf mich, als ich ihn im Unterricht Garcilasos »Sonnet V.« vortragen hörte. Dieses Gedicht sagte ich öfter selbst auf, wenn ich durch die Straßen Madrids schlenderte, wenn ich allein durch die Wälder streifte oder nachts im Bett lag, nach dem Gebet und vor dem Einschlafen. Und wenn ich die Strophen rezitierte, dachte ich an meine Cousine Mercedes, die Frau, in die ich verliebt war, solange ich zurückdenken konnte. Bis ich Miguel das Sonnet vor der ganzen Klasse aufsagen hörte, hatte ich geglaubt, ich als Einziger verstünde die wahre Bedeutung von Garcilasos Worten.
    Sobald er mit der ersten Zeile ansetzte, »Eingeschrieben in meine Seele ist Eure Gestalt«, war ich berückt. Er sagte die Worte nicht nur, wie die anderen in der Klasse es taten, wenn wir ein Gedicht hatten auswendig lernen müssen und aufgerufen wurden, es vorzutragen. Bei Miguel kam es mir vor, als habe er die Gefühle, von denen Garcilaso sprach, selbst erlebt. Jedes Wort empfand er in all seiner Tiefe, wie nur ein wahrer Dichter es zu tun vermag. Mit wachsender Leidenschaft rezitierte er die nächsten dreizehn Verse:
    Und alles, was ich schreiben möchte über Euch,
    das habt Ihr selbst geschrieben, ich lese nur,
    und auch beim Lesen halte ich mich scheu zurück.
    In dieser Haltung bin und bleib ich, und
    weil ich nicht fasse, was ich an Euch sehe,
    so glaube ich, was ich von all den Gaben nicht begreife,
    und nehm es voll Vertrauen als Gewissheit schon vorweg.
    Ich bin allein dazu geboren, Euch zu lieben,
    meine Seele hat Euch nach ihrem Bild geformt:
    Ich liebe Euch als Kleid der Seele selbst.
    Was ich auch habe, ich gesteh’s, verdank ich Euch:
    Für Euch bin ich geboren, durch Euch leb ich,
    durch Euch muss ich einst sterben, für Euch sterb ich.
    Als Miguel die letzten Worte gesprochen hatte, glänzten seine Augen, als würde er von einem Fieber verzehrt, seine Hände zitterten, als führten sie ein Eigenleben, auf seiner Stirn standen Schweißperlen, seine Schultern krümmten sich nach innen,
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