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Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)

Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)

Titel: Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
Autoren: Megan Whalen Turner
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Schenken dargebracht wurden, austrocknen ließ.
    Manchmal wagte ich mich so weit vor, wie meine Ketten es mir gestatteten, und blickte durch die Gitterstäbe meiner Zellentür und über den breiten, offenen Gang, der den Gefängniszellen Schatten vor dem Sonnenlicht bot, das in den Hof schien. Das Gefängnis bestand aus zwei Zellengeschossen übereinander: Ich saß im oberen Stockwerk. Jede Zelle ging auf den Gang hinaus, und der Gang war durch steinerne Säulen vom Hof getrennt. Es gab keine Fenster in den Außenmauern, die drei oder vier Fuß dick waren und aus massiven Steinquadern bestanden, die zehn Männer gemeinsam nicht hätten verschieben können. Der Sage nach hatten die alten Götter sie binnen eines Tages aufgeschichtet.
    Das Gefängnis war von beinahe überall in der Stadt aus zu sehen, da sie auf einem Hügel errichtet war, auf dessen Gipfel das Gefängnis stand. Das einzige andere Gebäude dort oben war der Sitz des Königs, sein Megaron. Früher hatte es auch einen Tempel der alten Götter gegeben, aber er war längst zerstört, und die den neuen Göttern geweihte Basilika war weiter hangabwärts gebaut worden. Der Palast des Königs war einst ein echtes Megaron gewesen, ein einziger Raum mit einem Thron und einer Feuerstelle; damals war das spätere Gefängnis noch die Agora gewesen, auf der die Bürger sich versammelten und Händler ihren Tand verschacherten. Die einzelnen Zellen waren Stände mit Kleidern, Wein, Kerzen oder von den Inseln importierten Schmuckstücken gewesen. Führende Bürger waren auf die Steinklötze im Hof gestiegen, um Reden zu halten.
    Dann waren die Eroberer gekommen, mit ihren Langschiffen und ihren eigenen Vorstellungen vom Handel: Sie schlossen Geschäfte auf offenen Marktplätzen gleich bei ihren Schiffen ab. Sie hatten das Megaron des Königs für ihren Gouverneur übernommen und den massiven Steinbau der Agora als Gefängnis genutzt. Nun waren führende Bürger an die Klötze gekettet worden, statt sich darauf in Positur zu stellen.
    Die alten Eroberer waren von neuen Eroberern verdrängt worden, und irgendwann hatte Sounis rebelliert und wieder einen eigenen König eingesetzt. Doch immer noch trieben die Menschen unten am Wasser Handel; es war zur Gewohnheit geworden, und der neue König nutzte die Agora weiterhin als Gefängnis. Das war ihm dienlich, da er mit keiner der Familien verwandt war, die in der Vergangenheit über die Stadt geherrscht hatten. Zu dem Zeitpunkt, als ich dort landete, hatten die meisten Leute in der Stadt bereits vergessen, dass das Gefängnis je etwas anderes als ein Pferch für diejenigen, die ihre Steuern nicht zahlten, und andere Verbrecher gewesen war.
    Ich lag auf dem Rücken in meiner Zelle, die Beine in der Luft um die Kette geschlungen, die von meiner Taille zu einem Ring hoch oben in der Wand führte. Es war spät in der Nacht: Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, und das Gefängnis wurde von brennenden Lampen erhellt. Ich war damit beschäftigt, den Wert sauberer Kleidung im Vergleich zu dem besseren Essens abzuwägen, und achtete nicht auf das Fußgetrappel vor meiner Zelle. Aus dem Gefängnis führte eine eiserne Tür in die Wachstube an der Schmalseite des Gebäudes. Die Wärter gingen täglich viele Male hindurch. Wenn ich die Tür zuschlagen hörte, achtete ich schon nicht mehr darauf, und so war ich unvorbereitet, als Lampenlicht durch eine Linse konzentriert grell in meine Zelle schien. Ich wollte geschmeidig, elegant und vielleicht wild wirken, als ich meine Füße von der Kette löste und mich aufsetzte. Überrumpelt und fast blind war ich ungeschickt und wäre von der Steinpritsche gefallen, wenn die Kette nicht noch um einen meiner Füße geschlungen gewesen wäre.
    »Ist er das?«
    Kein Wunder, dass die Stimme überrascht klang. Ich stemmte mich hoch und blinzelte ins Lampenlicht, ohne viel sehen zu können. Der Wärter versicherte irgendjemandem, dass ich tatsächlich der Gefangene sei, zu dem er wollte.
    »In Ordnung. Hol ihn raus!«
    Der Wärter sagte: »Ja, Magus«, als er das Gitter aufschloss, und so erfuhr ich, wer so spät nachts vor meiner Tür stand. Einer der mächtigsten Ratgeber des Königs. In den Tagen, bevor die Eroberer gekommen waren, war der jeweilige Magus des Königs angeblich ein Zauberer gewesen, aber noch nicht einmal die Abergläubischsten gingen heute noch davon aus. Ein Magus war ein Gelehrter. Er las Schriftrollen und Bücher in sämtlichen Sprachen, studierte alles, was je
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