Die leere Wiege: Roman (German Edition)
fort. Danach hatte Cate den Eindruck, sie befänden sich in einem Krieg, in dem die Gefangenen ihre Feinde waren.
Zu ihrem Büro gelangte Cate durch eine Reihe verschlossener Türen. Es war jedes Mal dieselbe Prozedur: öffnen, Schlüssel abziehen, durchgehen, Schlüssel zurückstecken, Tür abschließen. Als sie den kleinen, dunklen Raum betrat, schien er ihr die Bezeichnung »Büro« kaum zu verdienen, denn es war mehr ein begehbarer Schrank, mit Schreibtisch, Stuhl und Aktenschrank. Selbst der Computer war nur eine bessere Schreibmaschine, ohne Internetzugang. Officer Holley hatte ihr erklärt, »Zivile« seien immer eine Gefahr, weshalb es sicherer sei, ihnen weder Handys noch E-Mail-Anschlüsse zu gestatten. Nur das interne Telefonnetz stehe ihnen zur Verfügung.
Das also wird künftig meine Welt sein, ging es Cate durch den Kopf. Jeden Werktag von neun Uhr morgens bis halb sechs am frühen Abend würde sie wie die Gefangenen von der Außenwelt abgeschnitten sein. Na schön, redete sie sich gut zu, dann werde ich auch nicht abgelenkt. Ich kann in Ruhe meinen Job machen und abends nach Hause gehen.
Sie legte ihr Käsesandwich, den Apfel und die Dose Cola in die Schreibtischschublade. Zur Not konnte sie auch noch die halbe Tafel Schokolade essen, die in ihrer Jackentasche steckte. Zwar bot die Kantine warme Mahlzeiten an, aber Cate hatte keine Lust, an ihrem ersten Tag irgendwo allein an einem Tisch zu sitzen, umgeben von Gefängnispersonal, das über sie tuschelte. Dem würde sie sich erst stellen, wenn sie die Kollegen näher kennengelernt hatte, sollte es je dazu kommen. Denk positiv, ermahnte sie sich. Schließlich hast du gerade erst hier angefangen.
Sie stellte ein gerahmtes Foto von Amelia auf den Schreibtisch. Es zeigte ihre Tochter im Park beim Eisschlecken. Dann holte sie das Bild hervor, das Amelia vor einer Woche bei Julie gemalt hatte: ein Mädchen auf einer Schaukel, die von zwei Strichmännchen angeschoben wurde, eins mit dreieckigem Rock, das andere mit Krawatte. Vermutlich Cate und Tim. Für Mummy , hatte sie daruntergeschrieben. Alles Liebe, Amelia . Cate befestigte das Bild mit Klebestreifen an der Wand.
Nach einem kurzen einmaligen Klopfen öffnete sich die Tür. Auf der Schwelle stand Governor Wright, der Gefängnisdirektor. Cate kannte sein Gesicht aus dem Fernsehen, wo er immer dann zu sehen war, wenn mal wieder ein Gefangener aus dem offenen Vollzug geflohen war.
Governor Wright war ein übergewichtiger Mann und so groß, dass er vermutlich daran gewöhnt war, die meisten Menschen zu überragen. Er trat ein und baute sich vor Cates Schreibtisch auf. Sie schaute zu ihm hoch und versuchte, sich nicht wie ein Schulmädchen zu fühlen.
»Wollte nur mal sehen, wie Sie zurechtkommen.«
»Ganz gut, danke. Dave Callahan hat mich schon überall herumgeführt.«
»Ein fähiger Mann, hält das Gefängnis in Ordnung. Zum Glück ist meine Zeit der Rundgänge schon seit einer Weile vorbei. Damals hat man den Abschaum hier noch wie Abschaum behandelt. Damals war das Gefängnis noch kein Hotel.«
Er zog eine Packung Twix aus der Tasche, in der noch ein Riegel steckte. Er nahm ihn heraus und verschlang ihn mit zwei gierigen Bissen. Dass ein so dickleibiger Mann eitel sein konnte, wollte Cate zwar nicht in den Sinn, doch Wright strich sich immer wieder übers Haar, das sie an Kupferdraht erinnerte. Auch sein dunkler Nadelstreifenanzug wirkte teuer und war gut geschnitten. Die Manschettenknöpfe funkelten, und auf den Manschetten des Hemdes waren seine Initialen eingestickt. NKW.
»Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Vergessen Sie nie, dass Sie hier nur als Zivilangestellte tätig sind. Und das auch nur tagsüber. Die Wärter dagegen sind rund um die Uhr hier, und deshalb haben sie auch das Sagen. In meinem Gefängnis herrschen Zucht und Ordnung. Kommen Sie mir also nicht mit irgendwelchen Schnapsideen, auch wenn Sie zu den Schmusebären gehören.«
»Schmusebären?«, fragte Cate. »Meinen Sie Menschen, die sich nicht nur für die Bestrafung der Insassen interessieren?«
Wright zuckte die Achseln. »Sie werden sich schon noch an unseren Jargon gewöhnen.«
»Ich freue mich jedenfalls auf die Arbeit hier.« Cate fand, es war die richtige Antwort, auch wenn sie nicht zutraf. »Die Frauen auf ihre Freilassung vorzubereiten scheint mir eine lohnenswerte Aufgabe.«
»Na schön, aber sehen Sie zu, dass Ihr Mitleid nicht überhandnimmt. Die Frauen sind hysterisch. Sie weinen und jammern,
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