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Die Lange Erde: Roman (German Edition)

Die Lange Erde: Roman (German Edition)

Titel: Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Autoren: Terry Pratchett , Stephen Baxter
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längst im Himmel. Eigentlich hätte ich überhaupt nichts dagegen, denn von der Hölle habe ich, weiß Gott, schon mehr als genug gesehen.
    Am Abend lag er auf einer Lichtung am Fluss, den Kopf auf seinen Tornister gebettet. Als die Sterne aufgingen und heller als je zuvor am Himmel glänzten, fing Percy zu singen an, das Lied vom Tornister und den Sorgen: » Pack Up Your Troubles In Your Old Kit Bag .« Noch ehe er zu Ende gesungen hatte, verstummte er und schlief den Schlaf der Gerechten.
    Als ihm die Sonne wieder übers Gesicht strich, erwachte Percy erholt, setzte sich auf – und erstarrte vor Schreck. Angesichts der Blicke, mit denen er ruhig und gelassen gemustert wurde, blieb er stocksteif wie eine Statue sitzen. Vor ihm aufgereiht hockte ein ganzes Dutzend dieser Kerle und betrachtete ihn.
    Wer waren sie? Was waren sie? Sie sahen ein bisschen wie Bären aus, aber sie hatten keine Bärengesichter, oder auch ein bisschen wie Affen, nur dicker. Und sie betrachteten ihn in aller Seelenruhe. Das waren doch bestimmt keine Franzosen?
    Trotzdem probierte er es mit seinem Französisch: »Parlee wulle wuu?«
    Sie sahen ihn verständnislos an.
    In die Stille hinein räusperte sich Percy, weil er das Gefühl hatte, dass etwas mehr von ihm erwartet wurde, und stimmte abermals sein » Pack Up Your Troubles « an.
    Die Kerle lauschten verzückt, bis das Lied zu Ende war. Dann sahen sie einander an. Schließlich, als hätten sie sich darüber verständigt, trat einer von ihnen vor und sang Percy das Lied seinerseits formvollendet und fehlerlos vor.
    Schütze Percy hörte ihm mit vor Staunen offenem Mund zu.
    *
    Ein Jahrhundert später:
    Die Prärie war flach und üppig grün, hier und da stand ein Eichenwäldchen. Der Himmel darüber war geradezu sprichwörtlich blau. Am Horizont bewegte sich etwas, wie ein Wolkenschatten: eine gewaltige, dahinziehende Tierherde.
    Eine Art Seufzen war zu hören, ein Ausatmen. Ein Beobachter, der nahe genug gewesen wäre, hätte womöglich einen Windhauch auf der Haut gespürt.
    Im Gras lag eine Frau.
    Sie hieß Maria Valienté. Sie trug ihren rosa Angoralieblingspullover. Sie war erst fünfzehn, aber sie war schwanger, und das Kind konnte jeden Moment kommen. Die Wehen hatten ihren mageren Körper fest im Griff. Noch vor einem Augenblick hatte sie nicht gewusst, ob sie mehr Angst vor der Geburt oder vor dem Zorn Schwester Stephanies haben sollte, die ihr das Affenarmband weggenommen hatte – das einzige Andenken, das Maria von ihrer Mutter besaß –, weil es angeblich ein Zeichen der Sünde war.
    Und jetzt das. Freier Himmel, wo eigentlich eine nikotinfleckige Stuckdecke hätte sein müssen. Gras und Bäume, wo gerade noch ein abgetretener Teppich gewesen war. Alles war falsch. Wo war dieses Hier? War sie überhaupt noch in Madison? Wie war es überhaupt möglich, dass sie hier war?
    Aber diese Fragen spielten momentan keine Rolle. Die Schmerzen hatten sie wieder gepackt, und sie spürte, dass das Baby kam. Hier war niemand, der ihr helfen konnte, nicht einmal Schwester Stephanie. Sie schloss die Augen und schrie. Und presste.
    Das Baby purzelte ins Gras. Maria wusste, dass sie noch auf die Nachgeburt warten musste. Als das erledigt war, spürte sie eine klebrige Wärme zwischen den Beinen, und da lag ein Baby, das mit einem schleimigen, blutigen Film überzogen war. Es – er – machte den Mund auf und stieß ein leises Wimmern aus.
    Aus der Ferne ertönte etwas wie grollender Donner. Ein tiefes Brüllen, wie man es sonst nur im Zoo hörte. Wie von einem Löwen.
    Einem Löwen? Maria schrie wieder, diesmal vor Angst …
    Der Schrei brach abrupt ab, wie ausgeschaltet. Maria war verschwunden. Der Neugeborene war allein.
    Ganz allein – bis auf das Universum. Das auf ihn einströmte und mit unendlich vielen Stimmen auf ihn einredete. Und dahinter eine unermessliche Stille.
    Sein ängstliches Geschrei wurde zu einem sanften Gurgeln. Die Stille war beruhigend.
    Eine Art Seufzen war zu vernehmen, wie ein Ausatmen. Maria befand sich wieder im Grünen, unter dem blauen Himmel. Sie setzte sich auf und schaute sich ängstlich um. Ihr Gesicht war grau; sie verlor viel Blut. Aber ihr Baby war hier.
    Sie sammelte das Baby und die Nachgeburt ein – sie hatte noch nicht einmal die Nabelschnur durchtrennt –, wickelte den Kleinen in ihren Angorapullover und wiegte ihn in den Armen. Sein Gesichtchen sah eigenartig friedlich aus. Sie hatte gedacht, sie hätte ihn verloren. »Joshua«, sagte sie.
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