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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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Stadtrand von Emsdetten, um ein letztes Mal zum Mittelpunkt seiner Demütigungen zurückzukehren. Er ist ganz in Schwarz gekleidet und bewaffnet mit Sprengkörpern und drei Schusswaffen.
    Auf dem Schulhof zündet er eine selbst hergestellte Rohrbombe und einen Rauchkörper. Scheinbar wahllos schießt er auf entgegenkommende Schülerinnen und Schüler; wegen der Pause halten sich zu diesem Zeitpunkt viele Schüler und Lehrer im Freien auf. Mit einer Gasbombe verletzt er eine schwangere Lehrerin im Gesicht. Den Hausmeister schießt er in den Bauch. Durch den Haupteingang betritt er anschließend das Schulgebäude; in der Aula feuert er auf eine Schülergruppe und verletzt dadurch einen weiteren Schüler schwer. Im Treppenhaus
schießt er auf weitere Schüler und verwundet zwei Mädchen. Er zündet weitere Sprengkörper; durch die starke Rauchentwicklung werden weitere Personen verletzt. Im oberen Flur des Schulgebäudes tötet sich Bastian anschließend mit einem Schuss in den Mund. Bastians Schreckenstat hinterließ 37, zum Teil Schwerverletzte.
     
    Später, im Rückblick, beschreiben seine ehemaligen Mitschüler Bastian als verschlossen. Sie sagen: »Er sprach kaum mit jemandem, stand immer allein auf dem Schulhof rum. Es war nicht so, dass er mit Absicht ausgegrenzt wurde. Mir schien immer, er lege auch gar keinen Wert darauf.« Bastian sei nicht mehr ernst genommen worden: »Er spielte eine Rolle und machte sich dabei oft genug lächerlich.« Ein Lehrer erinnert sich an Bastians Schulabschluss: »Wir dachten, jetzt sind wir den endlich los« (Deggerich 2006, 37, 3).
    Für den Oberstaatsanwalt Wolfgang Schweer wurde die Tat durch »allgemeinen Lebensfrust« ausgelöst. Der Spiegel schildert Bastian als jemanden, der »nach Aufmerksamkeit gierte«. Das Nachrichtenmagazin glaubt zu wissen: »Sebastian B. war ein Außenseiter – und gefiel sich in dieser Rolle.« Einige Monate später ist im Spiegel nur noch von Bastians »vermeintlichen Demütigungen« die Rede. Damit wurde das Problem Schritt für Schritt entsorgt: Der »Psychofreak«, so noch einmal Der Spiegel , habe sich die Demütigungen eben nur eingebildet, zumal er ja eine krankhafte »Gier nach Aufmerksamkeit« gehabt habe. Auch nach Meinung des Focus lag das Problem ganz bei Bastian: Er sei eben »unfähig« gewesen, »Niederlagen zu verkraften« und habe sich »als ewiger Verlierer« gefühlt.
     
    Regelmäßig lösen Amokläufe ein großes Rätselraten aus, so auch im Spiegel : »Warum? Diese Frage stellen sich Lehrer und Mitschüler, stellt sich die Gesellschaft nach jedem Amoklauf. Nach Erfurt. Nach Emsdetten. Nach Winnenden. Aber meistens
gibt es auf diese Frage keine Antwort« (Kaiser 2010, 44). Eine Antwort hatte Bastian durchaus gegeben – sie wurde nicht zur Kenntnis genommen.
    »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig«, so schrieb Franz Werfel 1920. Die deutsche Sprache verfügt über ein reichhaltiges Arsenal an Formulierungen, mit denen Ursache und Wirkung umgedreht und dem Opfer die Schuld angelastet wird, etwa von Missachtung, Folter, Mobbing oder auch Vergewaltigungen: »zu empfindlich«, »überempfindlich«, »Weichei«, »emotional nicht belastbar« oder »sie war aber auch aufreizend angezogen!«.
    Aus diesem Arsenal bedienten sich viele der Kommentatoren in den Wochen nach Bastians Amoklauf. Binnen kurzer Zeit wurde so ein grundlegendes Problem deutscher Schulen aus dem Bewusstsein gedrängt. Ähnliches ist auch nach anderen Amokläufen zu beobachten: Nach wenigen Tagen wird nur noch über Randphänomene debattiert wie Waffengesetze, Computerspiele oder Alarmknöpfe. Auf diese Weise wird ein Problem entsorgt, das von Bastian klar benannt worden war:
    Die Tatsache nämlich, dass Schulen in Deutschland für viele Kinder und Jugendliche, aber auch viele Lehrer »Orte des Grauens« sind, wie der Mediziner und Lehrerfortbildner Joachim Bauer schreibt. Für die Lehrer: weil sie in Deutschland, wie kaum eine andere Berufsgruppe, öffentlich entwürdigt werden – von vielen Politikern, Medien, aber auch Eltern und Schülern. Für viele Schüler: weil sie sich im Unterricht häufig missachtet oder bloßgestellt fühlen.
    Annedore Prengel und Friederike Heinzel (2003, 18) schätzen, dass dies in jedem dritten oder vierten Klassenzimmer geschieht. Eine Befragung von Volker Krumm und Kirstin Eckstein kommt zum Ergebnis, dass etwa 17 Prozent der befragten Schüler durch Lehrer gemobbt wurden. Bei einer Befragung des Kriminologischen
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