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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein
Autoren: Tom Hodgkinson
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Dieser Umstand war für sie geradezu unerträglich, und sie wehrten sich mit allen möglichen Mitteln dagegen: mit Sabotage, groben Scherzen mit Kollegen, verantwortungslosen Handlungen. Eines der Probleme besteht darin, dass viele heutige Tätigkeiten gerade genug Konzentration erfordern, um dich nicht eindösen zu lassen, doch nicht genug, um deinen Geist wirklich in Anspruch zu nehmen. Rein mechanische Arbeiten können zum Beispiel der Beschäftigung in einem Call-Center vorzuziehen sein. Call-Center langweilen ihre Kunden zu Tränen und ihre Angestellten zu Tode, und eine schlechte Bezahlung verbindet sich mit der Ungewissheit, welcher enervierende Anruf als Nächstes folgt.
    Eine andere unserer Veröffentlichungen in letzter Zeit hieß Crap Towns (Drecksstädte), und wieder fiel mir auf, dass die Einförmigkeit moderner Städte häufig als Grund für ihre Minderwertigkeit genannt wurde. Etwas Grässliches ist geschehen: Riesige Warenhausketten haben unsere Städte – einst so lebenssprühend, von Menschen wimmelnd und vielfältig – in phantomhafte, von einkaufenden Zombies bevölkerte Einzelhandelszentren verwandelt. Eine heutige Stadt ist kaum mehr als eine Ansammlung von Wohnungen, die ein mächtiges, stickiges Einkaufszentrum umgibt. Uns vergeht jede Laune, wenn wir durch die Hauptstraßen gehen. Denn uns bedrängen Markennamen von farblosen Einrichtungen, die den Spaß und die Reichhaltigkeit der alten Läden, der Lebensmittel- und Kurzwarenhändler, Fischverkäufer, Bäcker, Blumenhändler, Schuster und Apotheker abgelöst haben. Das Streben nach Wachstum und Rationalisierung hat den unabhängigen Geist verscheucht. Fast. Gelegentlich hält sich noch eine alte Ladenfassade, und ihre Schönheit, Eleganz und Gestaltungsvielfalt funkeln wie die Bestandteile eines Regenbogens. Es gibt noch andere Hoffnungsschimmer: In dem Städtchen in unserer Nähe bemerkte ich gestern ein Schild, das mich aufmunterte. Es befand sich im Fenster eines Fernsehreparateurs – auch das eine aussterbende Art der Dienstleistung. Auf dem Schild stand: »Altmodischer Service durch den Besitzer«.
    E. F. Schumachers Feststellung »Small is beautiful« könnten wir die Aussage hinzufügen: »Big is boring«, denn schon die reine Dimension moderner Einrichtungen macht sie so unpersönlich, entfremdend und erschöpfend. McDonald’s ist langweilig, das indische Restaurant in meiner Nachbarschaft dagegen nicht. Raoul Vaneigem schrieb, ebenfalls in seinem Handbuch der Lebenskunst für die jüngeren Generationen, an die Stelle von Qualität sei Quantität getreten. Wir sind so besessen von Zahlen und Bilanzen, dass Schönheit und Wahrheit auf der Strecke geblieben sind. Langeweile ist genau das Gegenteil von Schönheit und Wahrheit. Das Leben ist dem Profit geopfert worden, und das Ergebnis ist massenhafte Langeweile.
    Eine der Hauptursachen der Langeweile ist die Tatsache, dass die Menschen ihrer alltäglichen Kreativität beraubt wurden. Zu dieser Einsicht kam jedenfalls William Morris. In seinem utopischen Roman Kunde von Nirgendwo (1890) malte er das Bild einer postrevolutionären Gesellschaft von 2005, in der sich alle einer frei gewählten schöpferischen Tätigkeit widmen. Geld existiert nicht, und der Piccadilly Circus ist von Feldern bedeckt. So stellte Morris sich auch das vierzehnte Jahrhundert vor. Aber entscheidend ist nicht, ob er das Mittelalter romantisierte – es dient ihm als wertvolles Ideal.
    Die puritanische Revolution hingegen machte die Massen mit der Langeweile bekannt. Sogar die Religion und der Weg zur Erlösung wurden langweilig. Im Mittelalter war die Religion voll von Blut und Tod. Gotteshäuser dienten nicht nur der Anbetung, sondern auch als wirtschaftliche Zentren und Orte von Festlichkeiten. Die Kirche förderte die Künste und beauftragte lokale Handwerker, ihre Gebäude zu verschönern. Die Predigten wurden in erster Linie wegen ihres Unterhaltungswerts besucht; sie boten wahres Theater. Im mittelalterlichen Florenz standen die Menschen die ganze Nacht hindurch Schlange, um einen großartigen Prediger zu hören. Nach dem Gottesdienst vergossen sie Tränen, während sie die Kirche verließen. All diese Dramatik wurde von den Puritanern beseitigt, die der alten Kirche »Aberglauben« und »Götzendienst« vorwarfen. Mit anderen Worten: Die heidnische Freude, die die katholische Kirche klugerweise beibehalten hatte, wurde den Gläubigen genommen.
    Auch die Politiker tragen einen großen Teil Verantwortung
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