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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein
Autoren: Tom Hodgkinson
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Kreativität von der Notwendigkeit der Anpassung an die gesellschaftlichen Normen und ihre Abwandlungen absorbiert; zumindest außerhalb generalisierter revolutionärer Momente.«
    Bevor wir zu deprimiert werden, sollten wir daran denken, dass der kreative Geist weiterlebt. Auf der schottischen Insel Eigg, nicht weit von Skye, kommen sämtliche Bewohner an jedem Samstagabend zum Trinken und Musizieren zusammen. Niemand wird bezahlt, niemand wird angeheuert. Man macht Musik um ihrer selbst willen, nicht des Profits wegen. Um die Langeweile zu bekämpfen, müssen wir die Kontrolle über unsere Arbeit und unsere Freizeit übernehmen.
    Der Künstler Jeremy Deller hat viele Jahre damit verbracht, auf den Britischen Inseln herumzureisen und Beispiele dessen, was er als Volkskunst bezeichnet, zu fotografieren. Deller versteht darunter kreative Handlungen, die von normalen Menschen, welche sich nie als Künstler betrachten würden, mehr oder weniger um ihrer selbst willen ausgeführt wurden. Es ist eine Kunst außerhalb der Kunstszene, außerhalb der Cork-Street-Galerien, Museen, Händler und Kunstsachverständigen, also außerhalb von Geld und Bürokratie. Zu den Beispielen zählen eine von mehreren Bauern gefertigte Rieseneule, individuell zusammengebaute Autos, in den Staub auf der Rückseite von Lieferwagen Hineingezeichnetes, ein Gemälde von Keith Richards hinten auf einem Lastwagen, ein riesiger automatischer Elefant und Grimassenwettbewerbe. Es ist ein wunderbares Projekt, denn es zeigt, dass der freie Geist höchst lebendig ist. Mehr noch, hier wird bewiesen, dass die Langeweile uns gegen alle Wahrscheinlichkeit noch nicht restlos zerstört hat.
    Was können wir gegen die Langeweile tun? Tja, dasselbe System, das sie geschaffen hat, verspricht auch, uns von ihr zu befreien. Wir werden durch unsere Arbeit gelangweilt, und dann verheißt die Reklame uns, wir könnten die Langeweile gegen Barzahlung loswerden. Man nennt das Müßiggang, im Englischen leisure, und das Wort leitet sich ab vom lateinischen licere, »dürfen«. Müßiggang ist also das, was uns in unserer »Freizeit« zu tun erlaubt ist. Und er ist teuer. Im Vereinigten Königreich werden in riesigen Geschäften, Virgin Megastores genannt, zahllose Stapel von Musik- und Filmaufzeichnungen verkauft. In ihrer Werbung behaupten die Megastores, die Langeweile zu bekämpfen. Aber wir sollten ihnen nicht gestatten, unsere Langeweile an unserer Stelle zu beseitigen. Wenn wir ihnen diese Aufgabe übertragen und uns vor der Verantwortung drücken, liefern wir unsere Kreativität den Berufsmusikern oder den Filmemachern aus. Wir bezahlen andere dafür, unsere Langeweile zu lindern. Zuvor langweilen wir uns, um das Geld zu verdienen, das wir dann ausgeben, um die Langeweile zu überwinden. Das lässt mich an den absurden modernen Trend namens Extremsport denken. Weil wir den größten Teil des Jahres das Gefühl haben, tot zu sein, springen wir, um uns lebendig zu fühlen, alle paar Monate von einer Brücke. Der Sturz von einer Brücke – oder ein Moment des Nervenkitzels – soll also ein ganzes Jahr der Langeweile wettmachen. Und die Freiheit, an einem Gummiband hängend von einer Brücke zu springen, wird als eine der großen Errungenschaften des modernen Kapitalismus gepriesen.
    Das Universum der Langeweile wurde von den Sex Pistols aufs Korn genommen. Wie Johnny Rotten wünsche auch ich mir keinen Urlaub in der Sonne. Ich lehne das kümmerliche Angebot ab, zwei Wochen an einem Strand zu verbringen (langweiliger Müßiggang), um mich von fünfzig Wochen im Büro (langweilige Arbeit) zu erholen. In Lipstick Traces verbindet der Rock ’n’ Roll-Kritiker Greil Marcus auf brillante Art die Dada- mit der Situationisten- Bewegung – und beide mit dem Punk. Was sie gemeinsam haben, ist das Aufbegehren gegen die Langeweile, der einfache Wunsch zu leben. Alle drei Bewegungen teilen den leidenschaftlichen Glauben, dass jeder dazu in der Lage ist. Wir alle können kreativ und frei sein. In der ersten Nummer der Zeitschrift Internationale Situationiste wurde im Juli 1958 verkündet, dass sich die Welt ändern werde, »denn wir wollen nicht gelangweilt sein . . . wütende und schlecht informierte Jugendliche, wohlhabende heranwachsende Rebellen, die keinen Standpunkt, doch durchaus ein Anliegen haben – ihnen allen ist die Langeweile gemeinsam. Die Situationisten werden das Urteil vollstrecken, das der zeitgenössische Müßiggang über sich selbst fällt.« Der Punk
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