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Die Konkubine

Die Konkubine

Titel: Die Konkubine
Autoren: Petra Gabriel
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Monate später war er mitsamt seiner Trompete nach Tsingtau abkommandiert worden. Wahrscheinlich reiste er an Bord eines kleinen Dampfers dorthin, vielleicht auch auf einem Kanonenboot. Wenn sie die Teeschale in der Hand hielt, konnte sie sehen, wie er sich über die Reling beugte, wie sich seine blauen Augen an der Küstenlinie festsaugten, um jede Einzelheit dieser kleinen deutschen Stadt am Gelben Meer zu erfassen. In ihrer Vorstellung war es ein sonniger Tag gewesen, im Frühling des Jahres 1903.
    Sie malte sich aus, wie der Fahrtwind mit seinem blonden Schopf spielte. Den Tropenhelm mit dem Nackenschutz hatte er in diesem Moment sicher nicht aufgehabt. Wenn sie nur ein wenig von diesem Mann geerbt hatte, dann konnte er ihn nicht getragen haben. Er hatte diese Ankunft bestimmt mit allen Sinnen erleben wollen. Und dazu gehörte es auch, den Wind zu spüren.
    Konrad brachte zwei Eigenschaften mit in diese fremde Welt im Osten, die er später auch an seine beiden Söhne, seine Tochter und seine fünf Enkelinnen vererben sollte. Die erste war die Neigung zu barocken Formen. In seinem Pass, den ihm das Deutsche Reich am 4. April 1938 in Stuttgart ausgestellt hatte, stand jedenfalls: Gestalt kräftig, Gesicht rund. Damals war er schon ein wohlhabender, Zigarre rauchender Fabrikant in Stuttgart gewesen. Seine Firma produzierte Gefrierdosen mit Patentverschluss. Das Patent dafür war seine Entwicklung.
    Konrads Sternzeichen war der Wassermann. «Der extrovertierte Wassermann wirkt oft ruhe- und haltlos. Er ist ein Träumer, der unbekümmert, ohne Einschränkungen vor sich hin leben möchte, da er weder Gesetze noch Regeln mag. Er liebt es, sich auf die Suche nach dem Neuen zu begeben», hatte sie nachgelesen. Das passte zu Konrad Gabriels zweiter Gabe, dem Talent, auch Nackenschlägen und Problemen jedweder Art noch etwas Positives abzugewinnen. Es musste schon einiges geschehen, ehe er seinen Sinn für Situationskomik verlor. Im Zweifel lachte er eben über sich selbst. Dementsprechend lautete sein Lieblingsspruch: «Das hat auch etwas Gutes.»
    Diese Überzeugung vertrat er auch dann noch, als die Welt unterging, in der er aufgewachsen war. Seine Mitbürger hielten ihn deshalb zeitlebens für einen glücklichen Mann, zumal dieser Charakterzug eine ziemlich anziehende Wirkung auf die Damenwelt hatte. Doch eigentlich war und blieb er ein Suchender, ein Nomade, ein Mensch, der nie ankam, zumindest nicht für lange Zeit. Auch nicht bei sich selbst.
    In China war sein Geburtsjahr 1880 dem Drachen zugeordnet: «Drachen sind begabt, intelligent, zäh, freigiebig und haben einen festen Willen. Ein Drache kann alles erreichen. Er wird oft geliebt und in der Liebe nie enttäuscht. Eher ist er der Auslöser eines Dramas der Enttäuschung.» Sie fand, diese Beschreibung entsprach ebenfalls dem, was sie von ihm wusste.
    Sie sah ihn vor sich, wie er in Wilhelmshaven an Bord des Truppentransporters marschiert war. Einer in Reih und Glied, im Gleichschritt mit anderen Freiwilligen, ebenso jung, ebenso abenteuerlustig wie sie. Er hatte rund fünf Wochen bis China gebraucht, Tage, in denen sich seine innere Spannung verdichtete. Wahrscheinlich hatte sich in den endlosen Stunden an Bord in seinem Magen jenes Vibrieren gebildet, das sie so gut kannte, das die Erwartung eines Wunders begleitete. Vielleicht hatte er es – wie sie heute – ebenfalls kaum gewagt, tief durchzuatmen. Damit sich das Wunder nicht verflüchtigte und sich das Vibrieren nicht in jenen Knoten der Enttäuschung verwandelte, der Magenschmerzen verursachte.
    Sie würde mit dem Flieger von Berlin-Tegel aus via Paris und Peking in gut zwanzig Stunden in Qingdao sein. Mehr als hundert Jahre später.
    Damals hatten viele Wege nach China, nach Tsingtau geführt, der Stadt an der Bucht von Kiautschou. Wenige Monate nach der Einnahme, am 6. März 1898, hatten die Deutschen mit China einen «Pachtvertrag» auf 99 Jahre abgeschlossen. Von Stund an war Kiautschou eine Kolonie, aus Invasoren waren Pächter geworden. Per Unterschrift.
    Es zog damals viele Europäer nach China, das bezeugten zahlreiche Berichte. Seit Marco Polos Reise zu Kublai Khan über 600 Jahre zuvor hatte dieses Reich nie aufgehört, die Fantasie der Europäer zu beschäftigen. Der Venezianer Marco Polo musste die unwirtlichsten Gegenden durchqueren, große Mühen und Gefahren auf sich nehmen, die wunderbarsten und aufregendsten Abenteuer überstehen, die sie sich vorstellen konnte, bis er den Hof des Khans
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