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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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schlagen. Als er innehielt, versetzte ich: »Es wird behauptet, sie sei in die Luft aufgestiegen.«
    »Und ob sie das ist! Als mein Enkel davon erfuhr, war er zunächst wie vom Donner gerührt. Dann klebte er sich aus Papier eine Art Hut zusammen und hielt ihn über meinen Ofen, und das Ding stieg in die Höhe. Daß die Kathedrale emporgeschwebt sei, habe nichts zu besagen, dachte er sich, sei ganz und gar kein Wunder. Das zeigt, was es heißt, ein Tor zu sein – es kam ihm nicht in den Sinn, daß alles deswegen so gemacht war, damit die Kathedrale aufstiege, wie sie’s tat. Er kann die Hand in der Natur einfach nicht sehen.«
    »Er hat sie nicht selbst gesehen?« fragte ich. »Die Kathedrale, meine ich.«
    Sie verstand mich falsch. »Oh, mindestens ein Dutzend Mal, wenn sie hier durchgezogen sind.«
    Der rezitierende Gesang des Trommlers, der mich an das Psalmodieren von Dr. Talos erinnerte, obschon rauher und ohne die beißende Intelligenz des Doktors vorgetragen, unterbrach unser Gespräch. »Weiß alles! Kennt jeden! Grün wie eine Stachelbeere! Seht selbst!«
    (Das penetrante Getrommel: BUM! BUM! BUM!)
    »Glaubst du, der grüne Mann weiß, wo Agia ist?«
    Die alte Frau lächelte. »So also heißt sie. Nun weiß ich Bescheid, falls jemand den Namen erwähnt. Ob er’s weiß? Vielleicht. Du hast Geld, warum probierst du’s nicht?«
    Warum eigentlich nicht, dachte ich.
    »Stammt aus den Urwäldern des Nordens! Ißt nicht! Verwandt mit den Büschen und Gräsern!« BUM! BUM! »Die Zukunft und die graue Vorzeit sind für ihn eins!«
    Als er sah, daß ich auf den Eingang seines Zeltes zuging, hielt er mit seinem Geschrei inne. »Kostet nur ein Aes, ihn zu sehen. Zwei, mit ihm zu sprechen. Drei, mit ihm allein zu sein.«
    »Allein für wie lange?« fragte ich, während ich drei kupferne Aes entnahm. Ein gequältes Lächeln huschte über das Gesicht des Trommlers. »So lange du willst.« Ich reichte ihm das Geld und trat ein.
    Offensichtlich hatte er damit gerechnet, daß ich nicht lange bleiben wollte, und ich hatte einen Gestank oder etwas anderes Ekliges erwartet. Es roch jedoch nur ein wenig nach trocknendem Heu. Das durch eine Öffnung im Zeltdach einfallende Sonnenlicht bildete in der Mitte einen Lichtkegel, in dem der Staub fütterte, worin angekettet ein Mann von der Farbe heller Jade saß. Er trug einen Kilt aus Laub, das schon welkte; neben ihm stand ein bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllter Tonkrug.
    Zunächst herrschte Schweigen. Ich betrachtete ihn stehend. Er blickte zu Boden. »Das ist keine Bemalung«, sagte ich. »Und gefärbt ist es wohl auch nicht. Und du hast nicht mehr Haare als der Mann, der aus dem zugemauerten Haus geschleppt worden ist.«
    Er sah zu mir auf, dann wieder vor sich nieder. Selbst sein Augenweiß hatte eine grünliche Tönung.
    Ich versuchte, ihn zu reizen. »Wenn du wirklich eine Pflanze bist, solltest du Haare aus Gras haben.«
    »Nein.« Er hatte eine sanfte Stimme, die nur wegen ihrer Tiefe nicht weiblich klang.
    »Also bist du eine Pflanze? Eine sprechende?«
    »Du bist kein Landmann.«
    »Ich komme aus Nessus. Vor ein paar Tagen habe ich die Stadt verlassen.«
    »Mit etwas Bildung.«
    Ich dachte an Meister Palaemon, dann an Meister Malrubius und meine arme Thecla, und zuckte die Achseln. »Ich kann lesen und schreiben.«
    »Dennoch weißt du nichts über mich. Ich bin keine sprechende Pflanze, wie du eigentlich sehen müßtest. Selbst wenn eine Pflanze der einen Evolutionslinie unter vielen Millionen, die zu Intelligenz führt, folgen würde, ist es ausgeschlossen, daß sie sich zu einem Duplikat der menschlichen Gestalt in Holz und Laub entwickelte.«
    »Dasselbe ließe sich von Steinen sagen, trotzdem gibt es Statuen.«
    Obwohl tiefe Verzweiflung seine Miene prägte (er machte ein viel traurigeres Gesicht als mein Freund Jonas), zerrte etwas an seinen Mundwinkeln. »Schön gesagt. Du hast keine wissenschaftliche Ausbildung, aber du bist gebildeter, als du glaubst.«
    »Im Gegenteil, meine ganze Ausbildung ist wissenschaftlich gewesen – wenn auch solch phantastische Spekulationen nicht Teil davon gewesen sind. Was bist du?«
    »Ein großer Seher. Ein großer Lügner wie jeder, dessen Fuß in einer Falle steckt.«
    »Wenn du mir sagst, was du bist, versuche ich, dir zu helfen.«
    Er sah mich an, und mir war, als hätte ein großes Gewächs Augen aufgeschlagen und ein menschliches Gesicht offenbart. »Ich glaube dir«, versetzte er. »Wie kommt’s, daß du unter den
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