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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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ich, als ich mich abkehrte. »Und ich Einfaltspinsel habe dir geglaubt.«
    »Hör zu!« flüsterte der grüne Mann. »Als ich hierhergekommen bin, habe ich deine ganze Zukunft durchlaufen. Zum Teil erinnere ich mich, wenn auch dunkel. Ich habe dir nur die Wahrheit gesagt – und wenn du tatsächlich ein Freund des hiesigen Alkalden bist, will ich dir noch etwas sagen, das du ihm gern ausrichten darfst – etwas, das ich durch die Fragen, die mir hier gestellt werden, in Erfahrung gebracht habe. Bewaffnete Männer versuchen, einen Mann namens Barnoch zu befreien.«
    Ich nahm meinen Wetzstein aus der Gürteltasche, brach ihn auf dem Anbindepflock entzwei und gab ihm eine Hälfte. Zunächst war ihm nicht klar, was er da in Händen hielt. Dann sah ich, wie in ihm die Ahnung dämmerte, so daß er sich in seiner Freude anscheinend entfaltete, als badete er sich schon im helleren Licht seiner eigenen Zeit.
     

 
IV
 
Das Bukett
     
    Als ich das Zelt des Schaustellers verließ, tat ich einen Blick nach der Sonne. Der westliche Horizont hatte den Himmel bereits mehr als zur Hälfte erklommen; in einer Wache oder weniger wäre es Zeit für meinen Auftritt. Agia war verschwunden, und ich hatte jede Hoffnung, sie aufzuspüren, verloren, während ich wie verrückt von einer Ecke des Jahrmarkts zur anderen sauste; dennoch tröstete mich die Vorhersage des grünen Mannes – die ich so auslegte, daß Agia und ich uns wiedersähen, bevor einer von uns stürbe –und richtete mich die Überlegung wieder auf, daß sie vielleicht der Hinrichtung von Morwenna und dem Viehdieb beiwohne, genauso wie sie auch gekommen war, um zu sehen, wie man Barnoch ans Licht zerrte.
    Diese Mutmaßungen stellte ich zunächst an, als ich den Rückweg zum Gasthof antrat. Aber bevor ich das Zimmer, das ich mir mit Jonas teilte, erreichte, hatten sie Erinnerungen an Thecla und meine Erhebung zum Gesellen verdrängt, ausgelöst von der Notwendigkeit, meine neuen Zivilkleider gegen das Schwarz unserer Zunft auszutauschen. So stark ist das Assoziationsvermögen, daß jene Tracht, die für mich unsichtbar noch am Haken im Zimmer hing, und Terminus Est, das verborgen unter der Matratze lag, die Gedankenverbindung einleiten konnten.
    Als ich noch Thecla aufgewartet hatte, war es für mich immer belustigend festzustellen, daß ich anhand dessen, was ich ihr beim Betreten ihrer Zelle als Geschenk mitbrachte, viel von ihrer Konversation und insbesondere ihre ersten Worte vorausempfinden konnte. Handelte es sich zum Beispiel um einen Leckerbissen, den ich in der Küche gestohlen hatte, entlockte es ihr eine Beschreibung eines Mahles im Haus Absolut, und die Art der mitgebrachten Speise bestimmte sogar die Art des beschriebenen Schmauses: Fleisch – ein Jagdessen mit dem Kreischen und Brüllen des lebend gefangenen Wildes aus dem Schlachthaus darunter und langen Gesprächen über Hunde, Falken und Jagdleoparden; Süßspeisen – ein privates Essen, das eine der großen Chatelaines für wenige Freunde in wunderbar vertrauter, klatschsüchtiger Runde gab; Früchte – ein Gartenfest bei Dämmerung im gewaltigen Park des Hauses Absolut, von tausend Fackeln erleuchtet und von Gauklern, Schauspielern, Tänzern und Feuerwerkern in Schwung gebracht.
    Sie aß einmal sitzend, einmal stehend, und ging die drei Schritte, die sie von einem Ende der Zelle zum anderen brauchte, das Gericht in der Linken, mit der Rechten gestikulierend. »Sie schießen in den brausenden Himmel, Severian, und versprühen einen grünen und magentaroten Funkenregen, während die Kanonenschläge wie der Donner knallen!«
    Aber die arme Hand vermochte kaum darzustellen, wie die Raketen über den Kopf hinwegstiegen, denn die Decke war nicht viel höher als sie.
    »Aber ich langweile dich. Als du vorhin diese Pfirsiche gebracht hast, hast du so glücklich ausgesehn, nun willst du nicht einmal mehr lächeln. Es ist nur, daß es mir – hier –hilft, an diese Sachen zu denken. Wie werde ich sie genießen, wenn ich sie wieder erlebe.«
    Ich war natürlich nicht gelangweilt. Es stimmte mich einfach traurig, sie zu sehen, eine noch junge, so schrecklich schöne Frau in einem solchen Gefängnis …
     
    Jonas holte mir mein Terminus Est hervor, als ich ins Zimmer trat. Ich schenkte mir einen Becher Wein ein. »Wie fühlst du dich?« fragte er.
    »Und du? Es ist schließlich das erste Mal für dich.«
    Er zuckte die Achseln. »Ich muß nur holen und bringen. Hast du’s schon mal getan? Weil du so jung
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