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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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hatte.
    »O Held, der du den schwarzen Wurm vernichtest, welcher die Sonne verschlingt; du, für den sich der Himmel teilt wie ein Vorhang; du, dessen Odem Erebus, Abaia und Szylla im Pfuhl unter den Wogen versengst; du, der du gleichermaßen in der Schale des kleinsten Samenkorns im fernsten Wald lebst, des Samenkorns, das in die Dunkelheit rollt, wo kein Mensch es sieht.«
    Morwenna bestieg die Stufen, angeführt vom Alkalden und gefolgt von einem Mann mit einem Eisenspieß, womit er sie vorantrieb. Jemand aus der Menge rief ihm eine obszöne Anregung zu.
    »… hob Erbarmen für jene, die kein Erbarmen kannten. Hab Erbarmen für uns, die nun kein Erbarmen kennen.«
    Der Mönch war zum Ende gekommen, und der Alkalde begann: »Hassenswerteste, Verruchteste …«
    Seine Stimme war hoch und hatte sowohl mit seinem normalen Sprechen als auch dem schwülstigen Tonfall, den er für seine Rede vor Barnochs Haus gebraucht hatte, wenig Ähnlichkeit. Nachdem ich eine Weile geistesabwesend zugehört hatte (denn ich suchte Agia in der Menge), fiel mir auf, daß er Angst hatte. Er würde alles, was den beiden Gefangenen widerführe, aus nächster Nähe mit ansehen müssen. Ich lächelte heimlich unter meiner Maske.
    »… aus Rücksicht auf dein Geschlecht. Jedoch sollst du gebrandmarkt werden auf der rechten Wange und der linken, sollen dir die Beine gebrochen und der Kopf vom Rumpf getrennt werden.«
    (Ich hoffte, sie wären so gescheit und vergäßen nicht, daß dafür eine Kohlenpfanne vonnöten wäre.)
    »Im Namen der Gerichtsbarkeit, die der gnädige Autarch – dessen Gedanken die Musik seiner Untertanen sind – in meine unwürdige Hand gelegt, erkläre ich hiermit … erkläre ich hiermit …«
    Er hatte es vergessen. Ich flüsterte ihm den Wortlaut zu: »Daß deine Stunde geschlagen hat.«
    »Erkläre hiermit, daß deine Stunde geschlagen hat, Morwenna. Wenn du den Schlichter anrufen willst, rufe ihn in deinem Herzen an! Wenn du den Schlichter anrufen willst, rufe ihn an! Wenn du den Kindern der Weiber etwas zu sagen hast, sprich, solange du noch kannst!«
    Der Alkalde fand seine Selbstsicherheit wieder und brachte es in einem Stück heraus: »Wenn du den Kindern der Weiber etwas zu sagen hast, sprich, solange du noch kannst!«
    Deutlich, wenn auch leise, erklärte Morwenna: »Ich weiß, die meisten von euch halten mich für schuldig. Ich bin unschuldig. So etwas Schreckliches, dessen ihr mich anklagt, könnte ich nie tun.«
    Die Schaulustigen rückten näher, um sie zu hören.
    »Viele von euch sind meine Zeugen, daß ich Stachys geliebt habe. Ich habe das Kind geliebt, das Stachys mir geschenkt.«
    Ein Farbtupfer sprang mir ins Auge, ein purpurschwarzer Fleck im hellen Schein der Frühlingssonne. Es war ein solches Bukett von Trauerrosen, wie es ein Taubstummer bei einer Beerdigung trägt. Die Frau, die es hielt, war Eusebia, der ich begegnet war, als sie Morwenna am Flußufer peinigte. Während ich zu ihr hin blickte, sog sie leidenschaftlich den Duft der Rosen ein und verwendete dann die dornigen Stiele, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, bis sie schließlich am Fuße des Blutgerüsts stand. »Die sind für dich, Morwenna. Stirb, ehe sie welken!«
    Ich klopfte mit der stumpfen Spitze meines Schwertes auf die Planken, um Ruhe zu schaffen. Morwenna sagte: »Der gute Mann, der für mich die Gebete gelesen und mit mir gesprochen hat, ehe ich hierhergebracht worden bin, hat darum gebetet, daß ich dir verzeihen möge, wenn ich vor dir die Glückseligkeit erlange. Es ist noch nie in meiner Macht gestanden, Gebete zu erhören, doch will ich das seine erhören. Ich verzeihe dir nun.«
    Eusebia setzte abermals zum Sprechen an, aber ich brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Der grinsende Mann mit den Zahnlücken an ihrer Seite winkte, und einigermaßen verblüfft erkannte ich ihn als Hethor.
    »Bist du bereit?« fragte mich Morwenna. »Ich bin’s.«
    Jonas hatte soeben einen Eimer mit glühender Holzkohle aufs Schafott gestellt. Daraus schaute, wie ich annahm, der Griff eines Brandeisens mit entsprechender Inschrift hervor; es war jedoch kein Stuhl da. Ich warf dem Alkalden einen hoffentlich vielsagenden Blick zu.
    Ebensogut hätte ich einen Pfosten ansehen können. Schließlich sagte ich: »Haben wir einen Stuhl?«
    »Ich schickte zwei Männer, einen zu holen. Und ein Stück Seil.«
    »Wann?« (Die Menge wurde ungeduldig.)
    »Soeben.«
    Am Vorabend hatte er mir zugesichert, daß alles bereit wäre, aber es
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