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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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Verbrechen keine Gnade verdient. Ja, sage ich! Ja, sagen wir alle! Hunderte, vielleicht sogar Tausende liegen aufgrund dieses Barnoch in namenlosen Gräbern. Hunderten, vielleicht Tausenden ist noch viel Schlimmeres widerfahren!
    Dennoch bitt’ ich euch, kurz nachzudenken, ehe wir diese Steine einreißen. Vodalus hat einen Spitzel verloren. Er wird sich einen neuen suchen. Bald schon, denke ich, wird ein Fremder in einer stillen Nacht zu einem von euch kommen. Er wird gewiß viel zu reden haben …«
    »Wie du!« rief jemand zur allgemeinen Erheiterung.
    »Bessere Worte als die meinen – ich bin nur ein derber Bergmann, wie viele von euch wissen. Viele süße, überzeugende Worte, hätte ich besser sagen sollen, und vielleicht etwas Geld obendrein. Ehe ihr ihm zunickt, solltet ihr an dieses Haus des Barnoch denken, so wie es jetzt aussieht, mit Quadersteinen anstelle der Tür. Denkt euch das eigene Haus ohne Türen und Fenster, aber mit euch darin.
    Dann denkt daran, wie’s diesem Barnoch ergehen wird, wenn wir ihn rausholen! Denn ich sage euch – besonders euch Fremden –, was ihr hier zu sehen bekommt, ist nur der Anfang dessen, was Ihr beim Markt zu Saltus sehen werdet! Für die folgenden Tage haben wir einen der besten Meister aus Nessus bestellt! Mindestens zwei Menschen werden in aller Form hingerichtet – mit einem einzigen Streich enthauptet. Einmal eine Frau, also gebrauchen wir den Stuhl! So etwas werden viele, die sich höchster, weltmännischer Bildung rühmen, noch nicht erlebt haben. Dann dieser Mann« – wobei der Alkalde eine Pause einlegte und mit der flachen Hand auf die sonnigen Türsteine klopfte –, »dieser Barnoch, den ein kundiger Führer dem Tode zuführt! Mag sein, daß er sich inzwischen ein kleines Loch in die Mauer hat schaben können. Oft gelingt ihnen das, und in diesem Fall kann er mich vielleicht hören.«
    Mit gehobener Stimme rief er: »Wenn du mich hörst, Barnoch, so schneide dir jetzt die Kehle durch. Wenn nicht, wirst du dir wünschen, du wärest längst verhungert!«
    Einen Moment lang herrschte Schweigen. Mich quälte der Gedanke, daß ich bald an einem Anhänger von Vodalus die Kunst praktizieren müßte. Der Alkalde hob den rechten Arm über den Kopf und ließ ihn dann wuchtig niedersausen. »Also gut, Gesellen, mit Macht ans Werk!«
    Die vier, die den Sturmbock gebracht hatten, zählten wie ausgemacht eins, zwei, drei und rannten gegen die zugemauerte Tür an, wobei sie etwas von ihrem Schwung einbüßten, als die beiden Vordermänner die Stufen nahmen. Der Sturmbock donnerte mit Getöse gegen die Steine, aber ein anderes Ergebnis zeitigte er nicht.
    »Also gut, Gesellen«, wiederholte der Alkalde. »Versuchen wir es noch einmal. Zeigt ihnen, was für Männer Saltus hervorbringt!«
    Die vier stürmten abermals an. Bei diesem Versuch überwanden die Vorderen die Stufen geschickter; die Steine, mit denen die Tür zugepfropft war, schienen unter dem Aufprall zu erbeben, und der Mörtel bröckelte ab. Ein Freiwilliger aus der Volksmenge, ein stämmiger, schwarzbärtiger Bursche, ging den Brechern zur Hand, und alle fünf stürmten von neuem an; der dumpfe Schlag, mit dem der Sturmbock auftraf, war kaum lauter, aber zu ihm gesellte sich ein Knirschen wie das von berstenden Knochen. »Noch einmal!« trug der Alkalde auf.
    Er hatte recht. Ein weiterer Schlag drückte den Stein, den der Sturmbock rammte, ins Hausinnere, wobei ein Loch von der Größe eines Männerkopfes entstand. Daraufhin machten die Brecher sich nicht mehr die Mühe, Anlauf zu nehmen; sie rissen die restlichen Steine nieder, indem sie den Sturmbock mit den Armen hin- und herschwangen, bis die Öffnung so hoch und breit war, daß man hindurchtreten konnte.
    Jemand, den ich bisher nicht bemerkt hatte, hatte Fackeln mitgebracht, und ein Knabe rannte in ein Nachbarhaus, um sie am Küchenherd zu entzünden. Die Männer mit den Lanzen und Knütteln nahmen sie ihm ab. Der Alkalde, der mehr Mut zeigte, als ich seinen listigen Augen zugetraut hätte, zog einen kurzen Schlagstock aus seinem Hemd hervor und sprang als erster hinein. Wir Zuschauer drängten uns hinter die Bewaffneten, und weil Jonas und ich in der ersten Reihe unter den Schaulustigen gestanden hatten, erreichten wir die Öffnung fast gleichzeitig. Die Luft war stickig, viel gräßlicher, als ich sie mir vorgestellt hatte. Möbeltrümmer lagen überall verstreut, wie wenn Barnoch seine Kommoden und Schränke verschlossen hätte, als die Maurer zum
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