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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters
Autoren: Gene Wolfe
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vertrauten Laut, den ich seit meiner Abreise von dort jedoch nicht mehr vernommen hatte.
    Das Vieh, das ich am frühen Morgen zu Gesicht bekommen hatte, war hinab zum Fluß gezogen, um dort auf Lastkähne verladen zu werden und darin das letzte Stück Weges in die Schlachthäuser von Nessus anzutreten. Diese Soldaten kamen aus der entgegengesetzten Richtung, vom Fluß herauf. Ob deswegen, weil ihre Offiziere sie mit einem Fußmarsch stählen wollten, oder weil die Schiffe, mit denen sie gekommen waren, anderswo gebraucht wurden, oder weil sie in ein vom Gyoll abgelegenes Gebiet kommandiert waren, wußte ich nicht. Ich hörte den gerufenen Befehl zum Singen, als sie auf die zusammenlaufende Menschenmasse stießen, und fast gleichzeitig damit die Schläge von den Ruten der Vingtner und die Schreie der Unglücklichen, die getroffen wurden.
    Die Männer waren Kelau; ein jeder trug als Waffe eine Schleuder mit einem zwei Ellen langen Griff und einen bemalten Lederbeutel mit Brandgeschossen. Wenige wirkten älter als ich, und die meisten schienen jünger, aber ihre vergoldeten Schuppenpanzer und reichverzierten Gürtel und Scheiden für den langen Dolch wiesen sie als Mitglieder eines Elitekorps der Erentarii aus. Ihr Lied handelte nicht von Krieg oder Weibern wie die meisten Soldatenlieder, sondern war ein echtes Schleuderwerferlied. Insoweit als ich es an diesem Tag hörte, ging es so:
     
    »Die Mutter sagte, lang ist’s her,
    Schlafe Knabe, wein nicht mehr;
    Für die Fremde bist du erkoren,
    Unter einem Schweifstern geboren.
     
    Der Vater schlug mich ins Gesicht,
    Wonach er zu dem Sohne spricht:
    Er klagt nicht ob der brennenden Ohren,
    Der unter einem Schweifstern geboren.
     
    Einen Weisen traf ich, dieser droht:
    Ich sehe deine Zukunft rot,
    Hast dich dem Brand und Krieg verschworen,
    Der du unter dem Schweifstern geboren.
     
    Einen Hirten traf ich, der sinniert:
    ›Wir Schafe gehn, wohin man uns führt;
    Zu den Engeln in den Himmelstoren,
    Auf der Bahn des Schweifsterns verloren.‹«
     
    Und so weiter, Vers um Vers. Manche waren mysteriös (wie mir schien), andere lediglich komisch und wieder andere waren gewiß nur um des Reimes willen geschmiedet worden.
    »Ein prächtiger Anblick, nicht wahr?« Es war der Wirt, dessen Glatzkopf an meiner Schulter auftauchte. »Südländer – seht, wie viele blondes Haar und Sommersprossen haben. Sind es von da unten kalt gewöhnt und müssen in die Berge. Möchte direkt mitgehen, wenn man sie so singen hört. Wie viele sind’s, was meint Ihr?«
    Die Packtiere kamen nun in Sicht. Sie waren schwer mit Proviant und Ausrüstung beladen und wurden mit spitzen Schwertern vorwärtsgetrieben. »Zweitausend. Vielleicht zweieinhalb.«
    »Danke, Sieur. Ich möchte mich auf dem laufenden halten. Ihr würdet mir nicht glauben, wie viele ich schon durch unsere Straßen habe ziehen sehn. Aber herzlich wenig kommen zurück. Nun, so ist nun mal der Krieg, glaube ich. Ich versuche mir immer einzureden, sie seien noch da – ich meine, dort, wohin sie gezogen sind – aber Ihr wißt so gut wie ich, daß viele für immer gegangen sind. Trotzdem, als Mann möchte man direkt mitgehen, wenn man sie so singen hört.«
    Ich fragte, ob er Neues vom Krieg wisse.
    »O ja, Sieur. Ich verfolge das Geschehen nun schon seit x Jahren, obwohl die Schlachten, die man führt, nie eine große Änderung bringen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Anscheinend rückt die Front weder näher, noch rückt sie weiter fort. Ich denke mir immer, unser Autarch und der ihrige verabreden sich zu einer Schlacht und ziehen dann, ist sie geschlagen, wieder heim. Meine Frau, töricht wie sie ist, glaubt überhaupt nicht, daß wirklich Krieg herrscht.«
    Hinter dem letzten Maultiertreiber strömten die Leute wieder zusammen; mit jedem Wort, das wir wechselten, wurde die Menge dichter. Geschäftige Männer errichteten Stände und Zelte, so daß die Straße immer schmaler und das Gedränge immer dichter wurden; finstere Masken auf hohen Stangen schienen wie Pilze aus dem Boden zu wachsen. »Was glaubt denn deine Frau dann, wohin die Soldaten ziehen?« fragte ich den Wirt.
    »Sie suchen nach Vodalus, sagt sie. Als ob der Autarch – dessen Hände in Gold schwimmen und dessen Feinde ihm die Ferse küssen – seine ganze Armee schickte, um einen Räuber zu fangen!«
    Nach Vodalus hörte ich kaum mehr ein Wort.
    Alles, was ich besitze, gäbe ich darum, einer von euch zu werden, die tagtäglich über ein schwindendes Gedächtnis
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