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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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dadurch aufhalten zu lassen.
    Immer näher kamen sie der hinteren Begrenzungsmauer, die den Park von dem freien Gelände und dem Hügel trennte. Fast schien es Gunhild, als würden sie auf den Hügel zugetrieben; denn nur am Teich und im Haus hatten die Einäugigen wirklich den Versuch unternommen, sie zu fangen.
    Gunhild verlangsamte ihren Schritt. Und jetzt hörte sie auch wieder die Musik – oder war die Melodie nie aus ihren Ohren verschwunden gewesen? Das Lied war befehlend und lockend zugleich, und Gunhild war nahe daran, stehen zu bleiben, aber ein kurzes Straucheln riss sie in die Wirklichkeit zurück.
    Für einen kurzen Augenblick überkam sie ein Schwindel, und Zweifel stieg in ihr auf, ob die Flucht wirklich Sinn machte. In diesem Moment war sie nahe daran aufzugeben; vielleicht noch näher als am Teich. Die Musik schien diesen Effekt zu verstärken.
    Etwas an ihrer Brust pulsierte warm und hell, sandte Wellen der Kraft aus, Schwingungen, welche die Töne des unsichtbaren Instruments auffingen, einige ausblendeten, andere verstärkten. Die Kraft strömte in ihren Körper, löste ihn aus seiner Starre, gab ihren Muskeln und Sehnen die Freiheit wieder, löste ihren Geist aus der Betäubung, die ihn umfangen hielt.
    Der Kristall.
    Das Kleinod der Anderswelt.
    Gunhild griff nach dem Bergkristall, den sie an der Kette um den Hals trug; dabei zog sie ihn aus dem Ausschnitt ihres dünnen Nachthemds heraus. Hell und klar blinkte der Stein im Mondlicht. Sogleich fiel alles von ihr ab, und sie schritt wieder rascher aus, um Hagen auf den Fersen zu bleiben, der von ihrem kurzen Zögern nichts mitbekommen hatte.
    Hagen keuchte zusehends, aber er ließ nicht nach. Wieder suchte er die Deckung der Büsche; denn in einiger Entfernung hörte sie, wie ihre Verfolger das Geäst brachen. Also waren sie doch denselben Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen wie die Menschen, konnten nicht überall zugleich sein, zumindest hier im Park. Innerlich atmete das Mädchen auf. Das nahm den Kreaturen einen Teil ihres Schreckens.
    Durch eine Lücke in den Bäumen sah sie bereits den Hügel vor sich aufragen. Er hatte irgendwie etwas Beruhigendes an sich, ein Ort, von dem keine Gefahr ausging. Er war ein Symbol der Unvergänglichkeit in der Landschaft.
    Der Baumbestand wurde immer dünner, je näher sie dem Hügel kamen; dafür nahmen das Buschwerk und die Sträucher zu. Hagen irritierte das nicht. Unbeirrt lief er weiter.
    Die Einäugigen schienen ihre Spur verloren zu haben, und ihr Vorsprung wuchs augenscheinlich. Gunhilds Mut stieg wieder. Dann waren sie aus dem Buschwerk heraus und liefen über einen Weg. Jetzt mussten ihre Verfolger sie deutlich sehen, aber Hagen winkte nur: Weiter! Auf Deckung und Heimlichkeiten kam es jetzt nicht mehr an. Jetzt ging es nur darum, wer schneller war. Jede Sekunde zählte.
    Der Weg weitete sich zu einer offenen Fläche, und jetzt wusste Gunhild wieder, wo sie waren: an der hinteren Auffahrt zum Herrenhaus, wo eine Pforte in der Mauer sich auf einen Feldweg öffnete, der sich in einem weiten Bogen wie eine Schlange um den Dunmor Hill herumwand. Der große Hügel ragte über der Mauerkrone auf, und über ihm stand voll und bleich der Mond, von einem Lichthof umkränzt.
    Dann hatten sie die schmiedeeiserne Pforte erreicht. Hagen hielt sich nicht damit auf, sie zu öffnen. Er bildete mit den Händen eine Feuerleiter und half Gunhild, Höhe zu gewinnen, um das Tor zu erklettern. Gleich nach ihr zog sich Hagen hinauf und ließ sich auf der anderen Seite hinunterfallen.
    Einen kurzen Moment gestatteten sich die beiden zu verschnaufen. Aber genau der Moment war zu viel.
    Plötzlich waren sie wieder da. Sie hatten auf der anderen Seite gewartet. Aus den Holunderbüschen und Hecken, welche die Mauer von außen säumten, brachen sie von beiden Seiten hervor. Es waren mehr als ein Dutzend. Es war keine Zeit, die Ungeheuer zu zählen.
    »Weiter, zum Hügel!«, schrie Hagen, und seine Stimme überschlug sich.
    Das war der letzte Ausweg, der noch offen war. Gunhild und Hagen liefen, so schnell sie ihre Füße trugen.
    Sie liefen direkt in das Mondlicht hinein. Gunhild hätte nie gedacht, dass der Mond so hell sein könnte. So grell, dass es blendete.
    Aber es war nicht der Mond.
    Es war der Widerschein des Mondlichts, der sich in Gunhilds Anhänger mit dem Kristall brach. Licht strömte heraus, entfaltete sich in allen Farben des Spektrums: violett und blau, grün und gelb, orange und rot. Strahlend wie die
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