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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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neun angekommen war, wurde der Takt erneut durchbrochen.
    Er hob den Kopf. Vor ihm lag das Meer, von einer Farbe, die weder Blau war noch Grün, sondern irgendetwas dazwischen und doch keine Mischung wie aus einem Malkasten, sondern eine Farbe für sich, für die er nur keinen Namen hatte. Weit hinten am Horizont verschmolz der dunkelviolette Himmel mit dem blau-grünen Meer zu einer Einheit, wo er die Farben nicht mehr unterscheiden konnte.
    Es ist nur ein Traum, dachte Siggi. Ich bin nicht wirklich hier; es sind nur Bilder in meinem Kopf.
    Die groben Kiesel und Steine des Strandes verstärkten noch das Geräusch der Wellen, wenn sie sich am Strand brachen. Siggi wusste, dass er an den Gestaden eines großen Ozeans stehen musste; denn er spürte keinen Wind. Diese Wellen kamen von jenseits des Horizonts und hatten einen langen Weg über tausende von Kilometern hinter sich gebracht, ehe ihre Kraft an dieser Küste verebbte.
    Siggi starrte auf die Wogen, wie sie in immer dem gleichen Rhythmus heranrollten, und er konnte den Blick nicht davon abwenden. Siggi liebte das Meer, wenn er auch als kleines Kind Angst davor gehabt hatte, damals, an der Nordsee, wo seine Eltern und seine Schwester Gunhild mit ihm Urlaub gemacht hatten. Damals war er noch nicht zur Schule gegangen. Das war jetzt fast zehn Jahre her. Aber den größten Wandel hatte er in jener Nacht vor einem Jahr durchgemacht, als sich für ihn, Gunhild und ihren gemeinsamen Freund Hagen das Tor zur Anderswelt geöffnet hatte.
    Seither verspürte Siggi die heiße Sehnsucht nach Abenteuern. Er lächelte, als er daran dachte, dass der ängstliche Knabe, der oft genug von seiner Schwester verteidigt worden war, sich nun durchsetzen konnte.
    Bilder stiegen in ihm auf: von tollkühnen Piraten, die unter dem Banner des Totenschädels auf hochbordigen Galeonen das Meer auf der Suche nach Gold und schönen Frauen durchpflügten; von eisengepanzerten Rittern auf stolzen Rossen, die für Gott und König ins Heilige Land zogen um es den heidnischen Muselmanen zu entreißen; von Raumfahrern in goldbedampften Helmen, die durch die luftleere Öde eines fremden Mondes stapften, die Laserpistole griffbereit gegen die Aliens, die jeden Moment hinter einem Kraterwall auftauchen konnten …
    Aber sein Traum änderte sich nicht. Aus ihm wurde kein wilder Piratenkapitän, kein Kreuzfahrer, kein Astronaut. Es blieben ihm die felsigen Gestade und das endlos rauschende Meer.
    Etwas war merkwürdig an diesem Rauschen. Der monotone Rhythmus war zu gleichmäßig. Etwas daran störte ihn. Die Kraft des wilden Ozeans schien ihm gebändigt, und das war nicht richtig. Ein Ozean hatte wild zu sei; niemand hatte ihm zu befehlen, einen Rhythmus zu halten. Das war unnatürlich.
    Der Junge schloss die Augen. Jeder neunte Wellenschlag unterschied sich von den vorhergehenden acht, wie deutlich herauszuhören war, wenn man sich darauf konzentrierte.
    Nachdem er die Augen geöffnet hatte, sah er es auch endlich. Jede neunte der in regelmäßigen Abständen auf den Strand schlagenden Wellen war sichtlich höher als die anderen.
    Schon ein seltsamer Traum, dachte der Junge und spitzte die Ohren. Der Rhythmus des Wellenschlags wurde von einer Art Gesang begleitet. Deutlich hörte er die ersten Zeilen eines Liedes.
    »Ich bin der Wind auf dem Meer,
Ich bin des Ozeans Welle,
Ich bin das Brüllen der See …«
    Es war ein Singsang, mehr ein rhythmisches Sprechen als eine wirkliche Melodie, die primitive Form eines Liedes, wie es die ersten Menschen in ihren Höhlen gesungen haben mochten.
    »Ich bin der Stier der sieben Leben,
Ich bin der Adler der Klippen,
Ich bin der Hirsch auf dem Hügel …«
    Ein merkwürdiger Text. Siggi kannte die Sprache nicht, in der das Lied gesungen wurde, aber er verstand die Worte dennoch, als seien sie nicht Deutsch oder Englisch oder gar altes Irisch, sondern aus einer Ursprache entnommen, in der alle menschlichen Sprachen ihren Anfang hatten.
    »Ich bin der Tropfen Tau,
Ich bin der Lachs im Wasser
Und der Teich unter den Apfelbäumen.«
    Neun, dachte er. Die neunte Zeile ist anders. Es wunderte ihn nicht einmal. Er wandte sich um, den Sänger ausfindig zu machen, der diesen unnatürlichen Rhythmus des Meeres mit seinem Gesang zu einem Lied ergänzte. Sein Blick schweifte über einen langsam zu den Dünen hin ansteigenden, zunehmend sandiger werdenden Strand. Hinter den Dünen war alles so wie am Meereshorizont: ein fahles, konturlos waberndes Grau, als würde ein
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