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Die Kinder von Avalon (German Edition)

Die Kinder von Avalon (German Edition)

Titel: Die Kinder von Avalon (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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»Auch er hat nie wirklich mir gehört, darum war es leicht, ihn wegzugeben. Ich werde meinen Kristall vermissen, aber auch der war immer der Stein der Göttin. Und die Göttin gehört allen Menschen. Der Gral ist der Schatz der ganzen Welt.«
    »Und was ist mit dem Einhorn?«, fragte Siggi eifrig. »Wem gehört das?«
    Gunhild lachte. »Niemandem. Nur sich selbst.«
    »Aber wie sollen wir es finden?«
    »Wenn es gefunden werden will, dann findet es uns.«
    Dann sahen sie es alle: etwas Weißes zwischen den Bäumen. Nur flüchtig blitzte es auf, dass sie zuerst fast glaubten, sie hätten sich geirrt, doch Gunhild rief: »Da! Da ist es! Wir müssen ihm folgen.«
    »Nicht so laut! Du wirst es verscheuchen«, warnte Hagen.
    Aber sie lachte nur: »Kommt!«
    Sie folgten dem weißen Blinken durch das Dickicht der Bäume. Immer war es ein Stück voraus, immer gerade außer Reichweite, doch stets nahe genug, dass sie es nicht aus den Augen verloren. Ihr Weg führte sie über Stock und Stein. Längst hatten sie jede Orientierung verloren und wussten nicht mehr wo sie waren. Osten, Süden, Westen und Norden, alles war einerlei geworden. Es gab nur noch die wilde Jagd, und so sehr sie auch keuchten und schnauften, lachten sie doch dabei. Ein eigentümliches Glücksgefühl hatte sie erfasst, und alles, was sie an Kummer und Sorgen mit sich getragen hatten, fiel von ihnen ab.
    Dann blieb das Einhorn stehen und sah sie an.
    Sie befanden sich auf einer Lichtung im Herzen des Waldes. Ringsum umgaben sie mächtige Bäume, ein Hain von Eichen, die dort seit uralten Zeiten standen. Und obwohl es heller Tag war, schienen in dem Flecken Himmel über ihnen, der zwischen den Bäumen sichtbar war, die Sterne des Sommers.
    Gunhild trat näher, ohne Zögern oder Furcht. Das Einhorn ließ sie herantreten. Sein weißes Fell glänzte wie Seide, sein gedrehtes Horn schimmerte wie Perlmutt. Das Mädchen hob die Hand und strich darüber; Funken sprangen davon auf, glitzernd wie Juwelen. Sie streichelte seine Nüstern, seine Mähne, das seidige Fell seines Halses.
    »Kommt«, sagte Gunhild. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Es tut euch nichts.«
    Die beiden kamen ebenfalls heran, aber sie blieben vor dem Wesen stehen, als trauten sie sich nicht näher heran. Sie standen nur da und schauten.
    »Trinkt, hat es gesagt.«
    »Du … du verstehst, was es sagt?«, fragte Siggi entgeistert. »Ich habe kein Wort gehört.«
    »Ich verstehe es laut und klar«, entgegnete Gunhild verwundert. »Es hat gesagt: Trinkt von dem Wasser der Quelle!«
    »Aber welche Quelle?«, fragte Hagen. In demselben Augenblick sah er sie auch. Halb unter einem Haselnussstrauch verborgen plätscherte lebendiges Wasser und fing sich in einem von Steinen umfassten Rund.
    Hagen beugte sich über die Quelle. Siggi stand hinter ihm. Es war wie eine Umkehrung der Szene aus jener alten Geschichte von den Nibelungen, als Hagen mit seinem Speer den Knienden von hinten getötet hatte. Doch Siggis Hände waren leer.
    Aus der Tiefe des Brunnens blinkte es golden herauf.
    Hagen zögerte. »Was geschieht mit uns, wenn wir davon trinken?«, wollte er wissen.
    »Ihr werdet vergessen«, sagte Gunhild. »Es ist der einzige Weg, nach Hause zurückzukehren. Ihr werdet vergessen, was hier geschehen ist, aber ihr werdet immer noch dieselben sein.«
    »He, das ist nicht fair!«, rief Siggi.
    Hagen sagte: »Du meinst, wir werden uns wirklich an gar nichts erinnern?«
    Siggi und er wechselten einen ihrer Blicke.
    »Wenn es wirklich der einzige Weg ist …«
    »… lassen wir es darauf ankommen.«
    Gemeinsam beugten beide sich über den Quell, schöpften, jeder für sich, das Wasser mit der hohlen Hand und tranken.
    Und noch während das Wasser durch ihre Finger perlte, begannen Siggi und Hagen zu verblassen. Zuerst sah man nur die Äste und das Gezweig des Haselnussstrauches durch ihre Gestalten hindurchscheinen, dann verschwammen auch ihre Umrisse, und dann waren sie fort, als hätte es sie nie gegeben.
    Gunhild blieb allein zurück. Sie trat auf den Quell zu und wollte sich gerade bücken, um von dem Wasser zu schöpfen, als etwas sie sanft in den Rücken stupste.
    Sie drehte sich um.
    »Wieso ich nicht?«, fragte sie. Das Einhorn stand vor ihr und schaute sie an. »Du meinst, es gibt für mich einen anderen Weg? Dann zeig ihn mir.«
    Den Arm um den Nacken des Einhorns gelegt, ließ sie sich führen, fort von der Lichtung, in das Dunkel des Waldes. Sie hatte kein Gefühl dafür, wie lange sie so gingen,
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