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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin
Autoren: Martina Kempff
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ohrenbetäubendes Pfeifen.
Dazwischen aus unzähligen Kehlen Geheul von Mensch und Tier. Es kam
näher, schien in einen einzigen höllischen Schrei
zusammenzufließen, der das Mark in den Gliedern erstarren ließ. Als wäre der
Himmel auf die Erde gekracht, erbebte der Boden unter den beiden Frauen, die
sich angstvoll aneinanderklammerten und entsetzt zu der von einem Feuerschein
erhellten Fensterluke blickten, durch die bereits erste Funken stoben.
    »Mein Kind!«, schrie die junge Frau. Sie riss sich von Clara los
und stürzte, den Rock fast bis zur Mitte gerafft, aus der Kammer.
    Wäre Zeit für einen Gedanken gewesen, hätte Clara an ein Wunder
geglaubt. Ohne auf die eben noch so nachgiebigen Beine zu achten, sprang sie
auf, hetzte in den schmalen dunklen Gang und gelangte, wie getragen von
drängenden Körpern, die steilen Stufen hinunter zum Ausgang.
    Sie wusste nicht, wohin, ließ
sich vom Strom der Flüchtenden mitreißen. Sie wankte, konnte aber nicht fallen
und wurde wie ein welkes Blatt von einer zur anderen Seite getrieben. Beißender
Rauch fraß sich in ihre Kehle; sie hustete, stolperte wieder und wurde
schließlich rücklings in eine kleine Nische gedrängt. Raues Mauerwerk riss ihr
die Haut an Armen und Handflächen auf, als sie, dem Chaos ausgeliefert, gegen
die Wand gepresst wurde.
    Brennende Pfeile flogen über die Köpfe, prallten gegen Mauern und
stürzten in die Menge. Bilder wie aus Fieberträumen. Grelles Licht wechselte
mit Dunkelheit; Krachen, Prasseln und Zischen betäubte die Ohren, ätzender
Gestank und Geruch verbrennenden Fleisches stieg Clara in die Nase.
    »Rette mich, Gott! Ich will nicht sterben!«
    Sie schloss die Augen, öffnete sie erst wieder, als der Druck der
Leiber etwas nachließ. Taumelnd trat sie einen Schritt vor.
    Etwas kam auf sie hernieder und prallte vor ihr auf den Stein. Blut
spritzte ihr ins Gesicht. Durch einen rötlichen Schleier blickte sie erstarrt
auf das winzige auseinandergeborstene Häuflein Mensch, ein Kleinkind,
vielleicht das ihrer Pflegerin.
    Ihr eigener Schrei hallte Clara noch in den Ohren, als ein Mann mit
blankgezogenem erhobenem Schwert auf sie zustürmte. Über seinem Kettenhemd trug
er den Waffenrock des Königs. In Erwartung des todbringenden Schlages schloss
Clara wieder die Augen. Sie spürte einen Luftzug, hörte das Aufschlagen der
Klinge auf Stein – und ihren Namen. Sie hob die Lider.
    »Clara!«
    Der Topfhelm verfremdete die gedämpfte Stimme, doch die violetten
Augen, die sich hinter den Metallschlitzen ungläubig weiteten, würde sie
überall wiedererkennen.
    »Theo«, keuchte sie und streckte dem Mann die Arme entgegen.
»Theo! Rette mich!«
    Und dann sank sie zusammen.

  1  
Trennung
    Blanka von Kastilien ist uns so fern, so hoch in der
Perspektive, dass sie uns in einem Märchenlicht erscheint. Sie entwirrte mit
ihren sehr langen Fingern den Knäuel einer endlosen Konspiration. Für uns ist
Blanka ein Mythos, ein Symbol der Stärke und der Gnade, eine bewegende Statue
mit einer eisernen Krone. Blanka – weiß – von Kopf bis Fuß. Mit Schleiern aus
Marmor und gehauen aus einem Marmor, der leicht wie ein Schleier ist. Ein Block
von Transparenz. Hartes Wasser; fließender Kristall von weißem Schaum
begleitet. Blanka ist die Frau ohne Farben, von denen sie die Zeit gereinigt
hat. Eine Art Lilie aus Stein.
    Jean Cocteau

14. Juli 1223
    E s war keine fröhliche Zeit. Die Spielleute wagten sich
nur an getragene Melodien, und bis auf Theobald von Champagne, der zu jeder
Zeit den richtigen Ton zu treffen verstand, waren alle Troubadoure verstummt.
    In Mantes, kaum einen Tagesritt von Paris entfernt, rang König
Philipp August im dreiundvierzigsten Jahr seiner Herrschaft mit dem Tod. Der
Monarch, der sich sein Leben lang allen Niederlagen gegen weltliche und
kirchliche Mächte widersetzt hatte, griff nach der Hand seines Sohnes Ludwig.
Wochenlang hatte dieser am Sterbelager des Herrschers ausgeharrt, seines innig
geliebten Vaters.
    »Fürchte Gott«, empfahl dieser dem Sohn mit schwacher, aber
deutlicher Stimme. »Sei gerecht zu deinem Volk, schütze es vor den Anmaßungen
der Hochmütigen, richte über Hoch und Niedrig, Arm und Reich.«
    Er hustete. Ludwig hob eine Hand. »Ich flehe dich an, mein Vater,
schone deine Kräfte!«, bat er. Der Hauch eines Lächelns zeigte sich in den
Mundwinkeln des Königs, während es in dessen Brust weiterrasselte.
    »Du, mein Sohn«, flüsterte er, »hast mir niemals Kummer bereitet.
Dafür danke
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