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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe
Autoren: Krystyna Kuhn
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Benjamin.
    »Sag mal«, in Chris’ Stimme lag wieder dieser sarkastische Unterton, den Julia hasste, »geht es dir wirklich nur um Ana?«
    »Natürlich.«
    »Und nicht etwa um David?«
    »David hat nichts damit zu tun. Aber Ana – sie kann dort oben sterben.«
    »Und das willst ausgerechnet du ändern? Wie denn? Hast du vielleicht ein Medizinstudium hinter dir, von dem wir nichts wissen?« Benjamin hüpfte von einem Bein aufs andere. »Komm Chris, lass sie doch zurückgehen, wenn sie will. Ihr seid schließlich nicht verheiratet.«
    »Halt die Klappe, Benjamin«, murmelte Chris.
    »Wie oft soll ich denn noch die Klappe halten? Ich bin der Einzige, der hier gewissen Realitäten ins Auge sieht. Nämlich der Tatsache, dass Ana vermutlich mausetot ist.«
    Chris hatte ihn ignoriert und Julia aus seinen eisgrauen Augen angestarrt, die sie nach wie vor so faszinierten. »Julia«, sagte er beschwörend. »Du hast es doch vorhin selbst gesagt. Wir gehen jetzt weiter. Vielleicht können wir von der Hütte aus Hilfe holen.«
    »Nein.« Es war wie ein innerer Zwang. Julia konnte nicht anders. Mit zitternden Händen löste sie das Sicherungsseil aus ihrem Klettergurt. »In der Hütte haben wir auch keinen Empfang, das weißt du genau.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss umkehren.«
    »Warum?«, schrie Chris. »Warum jetzt?«
    Julia konnte es nicht erklären. Konnte ihm nicht erklären, dass sie nun wusste, woran sie das Wimmern erinnert hatte, das vorhin aus der Gletscherspalte gedrungen war.
    »Dann geh doch! Dreh um!« Chris’ Arm schnellte nach vorne. »Weißt du, was das bedeutet? Du musst alleine zurück über den Gletscher. Damit bist du genauso lebensmüde wie die drei dort oben.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Hey, Julia!« Offenbar kapierte Benjamin erst jetzt, dass es ihr ernst war. »Lass den Scheiß. Chris hat recht, es ist zu gefährlich.«
    »Du setzt dein Leben aufs Spiel!« Chris packte ihre Schulter.
    Julia riss sich los. »Ich kann sie nicht im Stich lassen. Es geht einfach nicht.«
    Und dann war sie umgedreht. Und während sie nach ihren Fußspuren in der weißen Firndecke suchte, hörte sie Chris brüllen. Doch der jammervolle Ton in ihren Ohren war lauter. Es war das Wimmern, das Julia vorgestern Nacht in ihrem Traum gehört hatte.

    Merkwürdigerweise hatte Julia sich auf dem einsamen Weg zurück über den Gletscher nicht gefürchtet. Sie hatte keine Sekunde lang Angst gehabt, in eine der unzähligen Spalten zu fallen, die den Gletscher durchzogen. Ab und an sah sie eine von Anas Markierungen, aber die meiste Zeit konnte sie sich an der Spur orientieren, die ihre Fußstapfen hinterlassen hatten.
    Ja fast schien es ihr, als hätten sich die Risse im Eis auf mysteriöse Weise vor ihr geschlossen, als ob ein Schutzengel sie über die Wüste aus Eis führte.
    Ihr Vater?
    Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Abend am See, als Katie zum ersten Mal über ihren Plan gesprochen hatte. Da hatte sie geglaubt, ihren Vater zu sehen. Damals hatte sie gedacht, er käme, um sie zu holen, aber vielleicht hatte er sie nur schützen wollen?
    Manche Leute gewinnen im Lotto und andere überleben. So lauten die Regeln. Oder besser: Es gab keine Regeln für Glück oder Unglück, oder wenn doch, dann lautete sie: »Shit happens.«
    Ob sie einfach Glück gehabt hatte? Sie wusste es nicht. Auf jeden Fall hatte sie die anderen erreicht, gerade in dem Moment, als Paul und David die verletzte Ana über die Eiskante nach oben gezogen hatten.
    Und mittlerweile waren sie alle auf dem Rückweg.
    Vermutlich waren David, Paul und Katie mit der Hängematte, die sie aus den Ersatzkleidungsstücken gebunden hatten und in der sie Ana transportierten, inzwischen an der Gletschersohle angekommen.
    Julia war schon weiter, sie war vorausgelaufen, um Chris und Benjamin aus der Hütte zu holen, damit sie David und Paul ablösen konnten. Die beiden waren am Ende ihrer Kräfte, nachdem sie Ana in der Behelfstrage über den Gletscher geschleppt hatten. Ana hatte die ganze Zeit über gestöhnt und immer war es das Wimmern aus Julias Traum gewesen.
    Julia rannte.
    Ihre Füße fanden wie von selbst den Weg über das Geröllfeld, das hoch zur Hütte führte. Die Dämmerung war nun schon so weit fortgeschritten, dass ihr der Horizont wie ein schmaler Spalt schien, durch den nur noch wenige Sonnenstrahlen auf diese Seite der Berge gelangten. Nicht mehr lange und der Spalt würde sich schließen.
    Aber dort oben lag die Hütte. Und dort würden sie
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