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Die Kastratin

Die Kastratin

Titel: Die Kastratin
Autoren: Iny Lorentz
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Garten gar nicht hören.«
    Giulia wimmerte vor Schmerz. »Doch, das kann ich. Da gibt es ein kleines Fenster bei den Johannisbeersträuchern, bei dem man alles mithören kann, was im Probenraum geschieht.«
    »Du lügst!«, schrie ihr Vater sie an und wollte wieder zuschlagen. Pater Lorenzo fiel ihm in den Arm. »Das Mädchen sagt die Wahrheit. Ich kenne das Fenster. In meinen ersten Jahren in San Ippolito habe ich oft dort gesessen, um dem Gesang der Chorknaben zu lauschen, unter denen auch Ihr Euch befandet. Um der Gesänge willen habe ich sogar meine Arbeit vernachlässigt, bis der ehrwürdige Abt Jacopo di Riezzi mich schließlich mit der Leitung des Chores beauftragt und meine vorherigen Pflichten einem meiner Mitbrüder übertragen hat.«
    Es war eine hübsche Geschichte, die Pater Lorenzo gerne erzählte. Sie stimmte aber nur zum Teil, denn er war bereits als Musikfachmann in das Kloster eingetreten, um den damaligen Chorleiter zu unterstützen. Doch er hatte Fassis Aufmerksamkeit damit erst einmal von Giulia abgelenkt.
    Das Mädchen stand wie ein Häuflein Elend vor den beiden Männern und schniefte verzweifelt. So zornig hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Als er ihren Blick sah, machte er Anstalten, sie erneut zu schlagen, doch Pater Lorenzos umfangreiche Gestalt schob sich wie ein schützender Wall vor sie. »Du bist also die kleine Nachtigall, die wir eben gehört haben. Ich muss sagen, dein Vater hat dich gut ausgebildet.« Zweifel lag in seiner Stimme.
    Fassi protestierte vehement. »Ich habe Giulia die Messe nicht beigebracht. Das müsst Ihr mir glauben, ehrwürdiger Vater. Meine Tochter hat sie vom Zuhören gelernt, weil sie sich immer wieder zum Kloster hoch geschlichen hat, um die Proben zu be-lauschen.«
    Fassi war vor Angst halb wahnsinnig, denn wenn der Chorleiter annahm, dass er einem weiblichen Wesen das sakrale Musikwerk beigebracht hatte, und ihn deswegen beim Abt oder beim Bischof anzeigte, war alles aus. Er würde nicht nur seine Stellung verlieren, sondern einem Prozess beim Kirchengericht entgegensehen, wo nur selten jemand freigesprochen wurde.
    Der Pater achtete nicht auf seinen Korepetitor, sondern musterte Giulia streng. »Stimmt das, was dein Vater sagt?«
    Das Mädchen nickte unter Tränen.
    Pater Lorenzo rieb sich die Nasenspitze mit Daumen und Zeigefinger und dachte kurz nach. »Wir haben das Kyrie eleison heute zum ersten Mal so geprobt, wie Meister Palestrina es vorgeschrieben hat. Wenn du die Wahrheit sagst, müsstest du es mir vorsingen können.«
    Fassi wehrte erschrocken ab. »Ehrwürdiger Vater. Ihr könnt doch nicht wollen, dass sie ein Stück aus der Messe singt.«
    »Mich interessiert, ob sie es wirklich von selbst gelernt hat oder ob Ihr mir einen Bären aufbinden wollt.«
    Obwohl die Stimme des Mönchs sanft klang, lag ein Unterton darin, bei dem es Giulias Vater kalt über den Rücken lief. Jetzt begann er zu hoffen, dass seine Tochter das schwierige Stück tatsächlich singen konnte. »Du hast gehört, was der ehrwürdige Vater gesagt hat. Trage uns das Kyrie eleison vor.«
    Das Mädchen sah zweifelnd von einem zum anderen, merkte aber, dass es den beiden Männern ernst war, und begann mit zitternder Stimme zu singen. Zunächst traf sie keinen Ton richtig. Pater Lorenzo wollte schon verächtlich abwinken und warf Giulias Vater einen strafenden Blick zu. Doch dann hatte Giulia sich gefasst. Sie vergaß die Anwesenheit des Paters und ihres Vaters und gab sich voll und ganz der Musik hin.
    Pater Lorenzo trat einen Schritt zurück und starrte das Mädchen ungläubig an. Als sie endete, schüttelte er wild den Kopf. »Wäre es kein Lied zur Lobpreisung des Herrn, das mit Sicherheit kein Dämon der Hölle lehrt, würde ich sagen, das ist Hexerei.«
    Fassi zuckte zusammen, als er dieses Wort zum zweiten Mal hörte. »Da ist nichts Unnatürliches dabei, ehrwürdiger Vater. Giulia konnte sich schon als Kind jede Melodie merken, die sie einmal gehört hat. Damals waren es allerdings nur Lieder, die einem Mädchen anstanden, und nicht die neue Messe des großen Palestrina. Ich verspreche Euch, sie für ihre Anmaßung zu bestrafen.«
    Pater Lorenzo winkte lachend ab. »Ihr habt sie bereits im heißen Zorn geschlagen. Setzt dieser Sünde nicht noch eine weitere hinzu, indem Ihr erneut die Hand gegen sie erhebt.« Er strich Giulia über die Wange und lächelte ihr zu. »Geh jetzt nach Hause, mein Kind. Ach ja, als Strafe, dass du den Garten des Klosters betreten hast, was du
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