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Die Kastratin

Die Kastratin

Titel: Die Kastratin
Autoren: Iny Lorentz
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beiden Tragriemen und stemmte sich hoch. Zunächst taumelte sie unter dem Gewicht. Doch dann stapfte sie den schmalen Gang nach vorne zur Straße und stieg die Treppengasse hinab, um den Dung zum Garten zu bringen.
    Beppo schlug die Hände über dem Kopf zusammen und half ihr sofort, den Korb abzusetzen. »Bei der Heiligen Jungfrau und dem Jesuskind. Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, den Hühnerstall auszumisten?«
    »Die Mutter hat es mir angeschafft.« Giulias Zähne knirschten dabei ebenso vor Anstrengung wie vor Wut.
    Beppo schüttelte den Kopf und schalt sie liebevoll aus. »Der war doch viel zu schwer für dich. Damit hättest du dir einen Bruch heben können.«
    Giulia schauderte es bei dem Gedanken. Lodrinas Ehemann hatte einen Bruch gehabt. Es war kein schöner Anblick gewesen, fast wie ein großes Geschwür, das aus dem Körper herausgebrochen war. Der Mann war vor einem Jahr gestorben, und es gab nicht wenige, die seinen Bruch dafür verantwortlich machten. Kleinlaut sah sie Beppo an. »Ich werde beim nächsten Mal weniger aufladen.«
    »Das eine Mal war genug«, erklärte er streng. »Du wirst dich jetzt ausruhen. Den Rest des Stalls miste ich aus. Deine Mutter wird ja wohl kaum aus dem Haus herauskommen und nachsehen.«
    Giulia lächelte dankbar. »Ich glaube, sie hat sich wieder hingelegt. Da wird sie es wohl nicht merken.«
    »Hoffentlich bleibt sie im Bett, dann kann sie dich nicht so quälen.« Der alte Knecht lächelte Giulia zu und stupste sie an die Nase. »Geh zum Bach und wasch dir dein Gesicht. Du bist ja ganz schmutzig und riechst nach Hühnern.« Während er sich aufmachte, um den Rest von Giulias Arbeit zu übernehmen, befolgte sie seinen Rat und lief zum Bach hinunter.
    Als sie Gesicht, Hände und Füße gesäubert hatte, blickte sie unwillkürlich zum Kloster hoch. Es war jetzt die Stunde, in der die Chorknaben probten. Ihr juckte es plötzlich in den Zehen, hochzugehen und den Knaben zuzuhören. Durch Beppos Unterstützung hatte sie mindestens eine ganze Stunde frei. Forschend sah sie sich um. Außer ein paar Frauen, die weiter oben auf der Bleichwiese standen, ihre Laken einsammelten und dabei miteinander schwatzten, war niemand zu sehen.
    Giulia klopfte ihren Kittel aus, lief zu dem Gebüsch, in das Ludovico sie hatte locken wollen, und schlich an dessen Rand entlang auf den Klostergarten zu, der ein Stück weiter oben am anderen Hang begann. Wo dieser wieder flacher wurde, hatten die frommen Fratres Gemüse und Beerensträucher gepflanzt. Da-runter standen alte Olivenbäume, die in der Nacht wie drohende Gespenster wirkten, wie Giulia sich nur allzu gut erinnerte. Heute war jedoch ein sonniger Tag, und die Olivenbäume schienen dem Mädchen mit ihren im sanften Wind wiegenden Zweigen aufmunternd zuzuwinken. Giulia schlüpfte von Baum zu Baum und achtete dabei darauf, dass man sie vom Kloster aus nicht sah.
    Kurze Zeit später erreichte sie den Gemüsegarten, stieg über die kleine Mauer, die diesen vom Olivenhain trennte, und schlich in der Deckung etlicher ausufernder Johannisbeerbüsche auf die Außenwand des Klosters zu. Dort, wo der verwilderte Steilhang begann, gab es in Kniehöhe ein winziges Fenster, durch das der in den Gewölben liegende Probenraum der Chorknaben belüftet wurde. Hier schallten die Stimmen so wunderbar heraus, dass Giulia meist die Welt um sich vergaß. Heute war es allerdings ganz still, so dass sie im ersten Moment enttäuscht annahm, die Übungsstunde wäre bereits zu Ende. Doch einen Augenblick später klang der Gesang der Knaben süß und hingebungsvoll zu ihr hinauf.
    Giulia kauerte sich eng an die Wand und lauschte ergriffen. Dieses vielstimmig gesungene Stück der Messe war wirklich wunderschön. Sie hatte es schon mehrfach gehört und in ihrer Stimmlage imitiert. Ihr größtes Interesse galt jedoch dem Solopart. Sie hörte das engelsgleiche Halleluja des Chores und wartete auf Ludovicos Einsatz. Wie immer begann er einen Hauch zu spät. Giulia stellte sich vor, wie Pater Lorenzo und ihr Vater jetzt die Köpfe schütteln würden, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dann aber merkte sie auf.
    Irgendetwas stimmte heute mit Ludovicos Stimme nicht. Schon beim dritten Ton klang sie unsauber. Giulia dachte an das schmutzige Laken und lächelte böse, als sich noch weitere Unreinheiten in seinen Vortrag mischten. Es waren keine großen Ausrutscher, manchmal weniger als ein Hauch. Auf sie wirkten sie aber wie winzige Kratzer auf einem
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