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Die Karte der Welt (German Edition)

Die Karte der Welt (German Edition)

Titel: Die Karte der Welt (German Edition)
Autoren: Royce Buckingham
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immer blasser wurde, bis er schließlich in die Arme der beiden Männer sank.
    »Manche Magie verlangt nun mal nach Blut.«
    Alle verfielen in Schweigen, und der Mord wurde ohne weiteren Protest vollzogen. Wenige Momente später sackte die Leiche des Jungen zu Boden wie ein weggeworfener, leerer Wasserschlauch.
    Als Zeichen der Dankbarkeit nickte Petrich seinem Opfer kurz zu, dann tauchte er die Hand in die Schale und schöpfte, rot und warm, den makabren Tribut daraus. Er blickte auf die Gebirgskette, prägte sich den Anblick ein und beugte sich über die Tierhaut. Mit der freien Hand deutete er auf ein paar Symbole in der Mitte, dann beschrieb er mit dem Finger eine lange Linie zur Oberkante hin und verschmierte mit einer blitzschnellen Bewegung das Blut des Jungen auf dem Fell.
    Einen Moment lang geschah nichts. Die Männer blickten sich zweifelnd um, abwartend. Dann fiel ein Schatten über die fernen Berggipfel. Nein, er erhob sich aus ihnen. Wie eine schwarze Mauer wuchs er aus dem Boden, bis er selbst die grauen Wolken am Himmel verdeckte, und breitete sich über die gesamte Länge der Bergkette aus. Dann kam er über die Kämme auf sie zugejagt wie eine Flutwelle aus purem Schwarz. Ein Schwall warmer Luft schlug ihnen ins Gesicht. Sie roch nach Fäulnis und Tod.
    »Ist dies, was geschehen soll?«, fragte Krystal.
    Petrich geriet ins Stammeln. »Ich … ich weiß es nicht.«
    Krystal packte das blutverschmierte Fell und rannte den Hang hinunter, ließ seine Männer allein mit dem toten Jungen am Rand der Klippe. Von Entsetzen gepackt, starrten sie auf das nahende Unheil, unfähig zu fliehen, wo selbst ihr Fürst die Flucht ergriffen hatte, und die Dunkelheit rollte über sie hinweg.



1
    Die feucht-braune Wolke kam den Hang heraufgekrochen und legte sich über Wexford Stoli. Neben ihm lag ein Paar abgetragener Lederhandschuhe auf dem Boden. Er saß ein Stück den Hügel hinauf, oberhalb der Schweinezucht seines Vaters, und bestaunte das erwachende, frühlingshafte Grün der Berge. Das Gras war noch feucht vom Tau. Er konnte sich kein Stückchen weiter entfernen, ohne die Tiere übermäßiger Gefahr auszusetzen – durch wilde Hunde, Füchse, manchmal auch schwarze Wölfe –, und bald würde er den kleinen Hof allein führen müssen. Er saß hier genauso fest wie das in die Jahre gekommene Pferd mit dem Senkrücken, das am Zaun angeleint war.
    Auf Wex’ Schoß lag ein glattes, rundes Brett, das er aus dem Stumpf einer Kiefer gemacht hatte, darauf eine Zeichnung der Zornberge. Das selbstgemachte Papier war dick und grob – er hatte schon Besseres hinbekommen – und genau auf die Form der Holzscheibe zugeschnitten. Am Rand hatte er es mit den spitzen Nadeln einer Stechfichte festgeheftet. In der Hand hielt er einen Zeichenkiel, der einmal das Rückgrat einer glücklosen Ratte gewesen war, die sich in einem Erdloch unten neben der Suhle eingenistet hatte.
    Wex’ Bild war in dunklen Rottönen gehalten. Die Farbe bewahrte er in einem kleinen Lederbeutel auf. Wex zeichnete Impressionen, keine detailgenauen Abbilder. Seine Linien und Kleckse zeigten nicht exakt die Umrisse der Hänge und Kämme; stattdessen versuchte er, ihre Seele einzufangen, den kantigen Fels und die Lichtreflexe auf den Schneefeldern auf Papier zu bannen – darin war er ein Meister. Seine Tante Eunstice sagte oft, er zeichne Dinge, die ihr nie aufgefallen waren. Sie entdecke sie erst, nachdem sie Wex’ Bilder gesehen hatte.
    Wex lebte in seinen Bildern, schuf auf dem Papier Welten, in die er sich jeden Tag für ein paar Augenblicke flüchten konnte. Sobald er jedoch den Kiel absetzte und einmal kurz durchatmete, schlug ihm unbarmherzig der Geruch seines eigentlichen Lebens entgegen. Das war auch an diesem Tag nicht anders, und Wex verzog das Gesicht.
    »Heho, Sohn!« Sein Vater streckte den Kopf aus dem Schweinestall neben der Suhle. »Komm runter jetzt. Das Schlachtschwein wird nicht vor Langeweile sterben.«
    Man kann nie wissen , dachteWex.
    Er stand auf. Mit seinen siebzehn Jahren trug er das gelockte Haupt bereits ein gutes Stück höher als sein Vater. Die großen grünen Augen hatte er von seiner Mutter; fast alle Bauern hier in der Gegend hatten grüne Augen. Er war zwar noch ein wenig schlaksig, aber wenn er erst einmal die vierzig erreichte, hätte er bestimmt genug Speck mit Bierbrot verzehrt, dass auch sein Bauch sich über den Gürtel seiner Hose wölben würde. Er würde eben aussehen wie ein Schweinezüchter und ein
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