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Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Titel: Die Juliette Society: Roman (German Edition)
Autoren: Sasha Grey
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nicht einmal, ob es überhaupt eine Straße ist, auf der ich unterwegs bin. Bis ich mein Ziel erreicht habe, darauf zurückschaue, sehe, wie weit ich gekommen bin, und begreife, dass alle Entscheidungen, die ich getroffen habe, alle Wege, die ich eingeschlagen habe, mich an diesen Ort gebracht haben.
    So ist das nun mal. Daher muss ich, um zu erklären, wie ich bei der Juliette Society gelandet bin, am Anfang anfangen.
    Okay, vielleicht nicht ganz am Anfang. Die peinlichen Babyfotos heben wir uns für ein andermal auf. Und auch all die nebulösen Kindheitserinnerungen, die den Ursprung der Traumata bilden, die mich seither begleiten. Wie das eine Mal, als ich mir in der Sonntagsschule in die Hose gepinkelt hatte, als Schwester Rosetta uns von der Arche Noah erzählte.
    Also, nicht ganz von Anfang an, aber fast.
    Und ich muss Ihnen etwas über mich erzählen, über meinen Charakter, meine Achillesferse. Ich muss bei Marcus anfangen, meinem Dozenten, auf den ich heimlich abfahre.
    Haben nicht alle Mädchen einen heimlichen Schwarm? Einen bedeutungslosen anderen, auf den sie ihre wildesten sexuellen Fantasien projizieren können? Für mich war das Marcus. Natürlich wusste er nichts davon, aber er wurde zu meinem Fetisch, als ich zum ersten Mal in seinem Kurs saß.
    Marcus. Brillant, zerzaust, gut aussehend, schüchtern – so schüchtern, dass er fast schon unnahbar wirkte – und tiefgründig. Marcus, der mich von Anfang an faszinierte. Nichts weckt die Neugier einer Frau stärker als ein Mann, der emotional distanziert und schwer zu durchschauen ist, besonders was das Sexuelle betrifft. Und ich wurde aus Marcus einfach nicht schlau.
    In der Filmtheorie gibt es einen Begriff, der »Wahn nach Sichtbarmachung« lautet. Er hat etwas mit Lust zu tun. Der intensiven Lust, die wir empfinden, wenn wir den unwiderlegbaren Beweis der Existenz des menschlichen Körpers und seiner Funktionsweisen groß auf der Leinwand betrachten und begreifen.
    Dieses Gefühl gibt mir Marcus, wenn ich in der ersten Reihe des Hörsaals sitze, wo ich die beste Sicht auf ihn habe, vor dem Whiteboard, beleuchtet von Neonlampen, die so hell sind wie die Bogenlampen-Scheinwerfer auf einem Filmset. Ich sitze bei jeder Vorlesung auf demselben Platz in der ersten Reihe dieses Riesensaals, der sich hinter mir über vielleicht vierzig Reihen erstreckt, ganz in der Mitte, direkt vor seinem Pult, wo er mich unmöglich übersehen kann. Trotzdem errege ich kaum seine Aufmerksamkeit, noch schaut er überhaupt in meine Richtung. Er wendet sich immer an den Saal – den ganzen Saal – bloß nicht an mich. Er gibt mir das Gefühl, als wäre ich überhaupt nicht da, als würde ich gar nicht existieren.
    Er ist da, aber ich bin unsichtbar, und das macht mich ganz kirre – der Wahn nach Sichtbarmachung.
    Und ich frage mich, ob er mich absichtlich ignoriert, weil mein Interesse an ihm so verdammt offensichtlich ist.
    An den Tagen, an denen ich Vorlesungen habe – Montag, Dienstag und Freitag –, ertappe ich mich dabei, dass ich mich für ihn in Schale werfe. Heute habe ich mich für eine enge Jeans entschieden, die meinen Hintern betont, einen Balconnet-BH mit stützenden Bügeln, ein blau-weiß-gestreiftes Trägeroberteil, das meine Kurven unterstreicht, und eine marineblaue Strickjacke, die sie einrahmt und die Aufmerksamkeit auf sie zieht.
    Ich will, dass er meine Brüste bemerkt und er an Brigitte Bardot in Die Verachtung , Kim Novak in Vertigo und Sharon Stone in Basic Instinct denken muss.
    Ist das jetzt offensichtlich genug?
    Ich hoffe doch.
    Auch heute sitze ich wie üblich im Kurs, tue so, als würde ich mitschreiben, und ziehe Marcus mit den Augen aus. Er redet über Freud, Kinsey und Foucault, über das Spektakel des Kinos und den weiblichen Blick, und ich versuche, die aufschlussreiche Wölbung in der braunen Anzughose auszumachen, die in der Leistengegend ein ganz klein wenig zu eng ist.
    Halb steht er, halb sitzt er auf seinem Pult, wobei ein Bein leicht gespreizt von der Tischkante baumelt und einen fast perfekten rechten Winkel mit dem anderen bildet, das fest auf dem Boden verankert ist. Ich kaue an meinem Bleistift. Vom Saum seiner Hose ausgehend zähle ich die Zentimeter auf der Innenseite seines Oberschenkels und nehme eine grobe Schätzung von Umfang, Größe und Länge vor.
    Dann notiere ich meine Messwerte in der rechten oberen Ecke meines gelben, linierten Blocks, auf dem auch nach zwanzig Minuten Vorlesung nichts weiter als Krakeleien,
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