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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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erduldet, wird er noch aufgeknüpft werden und dann einsehen, dass man nicht gerecht sein, sondern scheinen wollen muss. Also wäre, was Aischylos sagt, weit richtiger, wenn er es von dem Ungerechten gesagt hätte. Der nämlich will nur gut scheinen und nicht sein. Also wird ihm alles, was der Gerechte zu durchleiden hat, erspart.
Das, lieber Herzensfreund, ist ein Maßstab, eine Benchmark! Lies das dreimal hin und her, dann geht Dir vielleicht der Anspruch dieser Sätze auf. Wenn der Gerechte als Gerechter auftritt, wird er dafür geehrt, und es ist nicht mehr sicher, ob er nur gerecht ist, weil er gepriesen werden will. Also muss der Gerechte sich so aufführen, dass er verachtet wird. Nur dann ist sicher, dass er gerecht ist. Mir schwebt ein moralisches Verstummen vor. Schluss mit den Rechtfertigungsparaden. Hätte Platon in Südeuropa ein platonisches Staatennetz schaffen können, wäre Jesus gar nicht mehr nötig gewesen usw. Nicht mehr in Frage kommen. Darauf kommt es an. Und werde gleich vom nächstbesten Traum ins Kreuzverhör der Moral gestoßen.
Da stehe ich dann mit Judith an unserer Gartentür, die Straße herauf schießt ein schwarz gleißender Pickup Truck. Das Auto, das in Starnberg nicht vorkommt. Darin ein Italiener. Mario Santi, sagt er. Aber keine Pizzabäcker-Schönheit, sondern reines Florenz, Uffizien, ein erstklassiger Renaissance-Italiener. Er muss Judith abholen, zu der Party in Tutzing. Judith steigt ein. Er sagt zu mir und zu ihr zugleich: Wer meckert, steigt aus. Judith sagt: Fahr ab! Sie rasen die Straße hinunter. Ich wache auf.
Träume sind das wirkliche Geschichtsbuch. Wer meckert, steigt aus. Dieser Satz fiel vor über zehn Jahren, als wir, Judith und ich, mit unserem Freund Micha nach München fuhren und Judith immer wieder vorlaute Bemerkungen über Michas Fahrstil machte, bis er reagierte: Wer meckert, steigt aus. Ich kann in jeder Sekunde von Judith, von Ruth, von Ursula oder eben von Berti träumen. Da kann ich noch so sehr mein moralisches Verstummen trainieren. Die Träume sind unzähmbar. Und folgen offenbar einem moralischen Oberkommando. Ich spüre eine Sehnsucht nach einer Utopie.
Ich hätte, was ich gesagt habe – überall gesagt habe, da und dort, immer aus vollem, aus übervollem Herzen –, ich hätte das alles nicht sagen sollen, nicht sagen dürfen. Für sich sein und bleiben. Das ist das Einzige. Das ist Utopie! Leben in einem Garten. Ganz und gar inhuman! So unvorbildlich wie möglich! Aussteigen aus jeder Humanität. Die ist eingeteilt in Schläger und Geschlagene. Wer beides nicht sein will, muss für sich sein. Und wäre das das Nichtssein. Aber dann bist du kein Lehrer mehr.
Wenn es mir langweilig werden würde. Das ist etwas, was im ersten Anflug den Rang einer Sünde erreicht und in mir prompt jenen Schrecken produziert, den früher die Sünde ausgelöst hat. Nichts ließ das Dasein so spürbar werden wie die Sünde. Inzwischen gibt es keine Sünde mehr, also auch keine Möglichkeit mehr, das Dasein in einem einzigen Schreckmoment durch und durch zu empfinden. Höchstens wenn ich mir eingestehen müsste, dass ich mich langweile. Ich sage mir sofort präventiv: Nichts ist mir unbekannter als Langeweile. Und schon empfinde ich mich als Heuchler. So nahe bin ich also der Sünde gekommen, dass ich mich wieder heuchelnd empfand. Wie früher.
Das nach Miami gezogene Professorenpaar hat einen National Geographic Reader’s Digest hinterlassen mit einem Quiz, das so überschrieben ist: Are You a Genius?
Ich bin ein Lehrer. Einmal pro Stunde laut und deutlich: Ich bin ein Lehrer. Ich habe inzwischen einen Assistenten. Steve. Hat in Harvard seinen Ph. D. in Sanskrit gemacht. Man braucht in den USA nur drei Doktoren mit Sanskrit. Und die hat man. Steve hat, solange seine Bewerbungen nirgendwohin führten, in NY Fund Raising Parties organisiert. Immer von 100000 Dollar aufwärts. Er ist glücklich, in Chestertown und bei mir gelandet zu sein. Er ist so zart wie genau. Vor allem: Er ist leise! Es gibt bei ihm, von ihm keinen lauten Ton. Das allein mutet mich paradiesisch an. Ursula war immer laut. Schön laut. Aber laut. Ich erzählte ihm heute, was mir nachts passierte. Am Rand der Kloschüssel eine Spinne, ich schiebe ihr Papier hin, nach anfänglichem Misstrauen akzeptiert sie die Papierbrücke, ich will sie zum Fenster tragen, aber sie lässt sich, ohne dass ich das bemerke, vom Papier auf den Boden fallen, sie ist nicht mehr in meiner Papierrolle. Die werfe ich
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