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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman
Autoren: Luchterhand
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Puppengesicht mit einer Haut wie Porzellan, unter den geraden Brauen ein leichter Schatten, die Kinderaugen erwachsen dreinschauend.
    Sechs Monate lang häkelte sie an den achtzehn Metern Spitze für ihr Brautkleid und machte während dieser Zeit eine Million Mal – mit der Häkelnadel in der einen und dem holländischen Garn in der anderen Hand – dasselbe: drei Stäbchen, zwei Luftmaschen und zum Abschluss eine Kettmasche. Es waren die letzten sechs Monate in ihrem Elternhaus, in der Calle Tercera de la Reforma Nummer 30 von Orizaba, ihr Verlobter Ramón war verreist, um eine militärische Mission zu erfüllen.
    Sie, die Kindbraut, wartete indessen auf seine Rückkehr. Manchmal war sie erwachsen, dann besuchte sie die Vorbereitungskurse auf die Ehe, um zu lernen, dass sie im Augenblick der ehelichen Begegnung die Augen schließen und flehen musste: ›Herr, gib, dass ich’s nicht genieße.‹ Oder sie setzte sich zu ihren Verwandten Dorita Rovira de Virgilio und Esther Rovira de Castillo, die auf Besuch da waren. Oder sie nähte mit Ramóns Schwester Adelita und seinen Tanten Trinidad Vignon, María Vignon de Aspiri und Leonor verwitwete Arnaud Kleider für die Armen.
    Manchmal war sie ein Kind, dann lief sie durch die von Farnkübeln beschatteten Korridore ihres Hauses, ohne auf die gelben Bodenfliesen zu treten, nur auf die blauen. Oder ohne auf die blauen zu treten, nur auf die gelben. Sie spielte mit ihren Schwestern Fangen, Räuber und Gendarm, dass der Korridor das Meer wäre und ein paar Kissen, die sie auf den Boden warfen, die Haie. Wenn sie müde wurde, zog sie sich in den Hof zurück, auf eine Bank unter die Palme, und dachte an Ramón oder an etwas anderes oder daran, an nichts zu denken. Am liebsten träumte sie von prächtigen Hochzeitsfesten, malte sich Geschichten aus von der ewigen Liebe und von Flitterwochen auf einer einsamen Insel.
    An sonnigen Morgen verströmte Orizaba den warmen, süßsauren grünen Duft der Tropen. Es roch nach bemoosten Steinen, nach wiederkäuendem Vieh mit feuchtem Gras im Maul, nach dampfenden Kuhfladen, nach frisch gepressten Orangen. Die Gerüche drangen bis zu Alicias Bett, stiegen ihr in die Nase, verklebten ihr die Haut und kräuselten ihr die Haare. Dann verspürte sie den Drang, sofort hinauszulaufen an die frische Luft, aufs freie Feld, alleine loszuziehen, die Hügel rund um das Dorf hinauf und hinunter, solange der verstockte Maulesel mitmachte.
    »Wo rennst du denn hin wie eine Verrückte?«, rief ihr die Mutter hinterher, wenn sie das Mädchen mit wehender Mähne davoneilen sah.
    Sie wusste selbst nicht, wo sie hinrannte, einfach irgendwohin. Sie lief, wie die Indio-Mädchen, mit nackten Füßen aus dem Haus, quer durch die gackernden Hühner, die frisch gewaschene Wäsche und die roten Gladiolen vor den Häusern der Armen.
    »Kindchen, Alicia, kaufen Sie mir diese Pfirsiche ab, nehmen Sie Tortillas mit, ich verkaufe Ihnen diesen Truthahn!«
    Sie lief zur Jutefabrik in Santa Gertrudis, Orizabas neuester Errungenschaft. Stundenlang beobachtete sie die 400 Arbeiter, emsig wie die Ameisen, stand mit offenem Mund da und versuchte zu begreifen, wie ein Wasserfall nicht nur die Webstühle, sondern auch die Maschinen in Gang halten konnte, mit denen die Fasern gekämmt, die Säcke genäht, die Stoffballen gewickelt wurden.
    »Das Wasser stürzt mit 800 Pferdestärken herunter«, erklärte ihr der Vorarbeiter jedes Mal aufs Neue, sobald sie dort aufkreuzte.
    »Mit 800 Pferdestärken«, wiederholte Alicia verwundert und fragte ihn jedes Mal wieder nach den Dynamos, nach dem Pellton-System, nach den Kupferbändern, die den Strom weiterleiteten.
    An manchen Tagen schleppte der dumpfe Trott ihres Maultiers sie noch weiter, bis zur Textilfabrik am Río Blanco. Die größte und modernste Anlage zur Baumwollherstellung der Welt. Sechstausend Männer, Frauen und Kinder arbeiteten dort. Je näher sie ihr kam, desto höher schlug ihr das Herz und die Spucke trocknete ihr im Mund. Einmal war sie mit Ramón dort gewesen. Sie wollte haltmachen, um die Uhr zu betrachten, die der Fabrikbesitzer vor dem Gebäude auf einen Turm gesetzt hatte. In Orizaba gab es eine Uhr dieser Art kein zweites Mal, mit ihren vier durchsichtigen, nachts leuchtenden Quadranten und ihrem Gebimmel und Geläute, wenn sie die Stunden schlug.
    »Ich will weg hier«, hatte Ramón gesagt.
    »Ich will noch ein bisschen bleiben, gleich ist es so weit, dann schlägt die Uhr«, bat sie.
    »Komm, lass uns gehen,
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