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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen
Autoren: white
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eine Pause, sammelte sich.
    »Bertrand«, sagte er dann. »Ich habe Sie nicht aus dem Schutt gezogen, damit wir alle drei hier verrecken. Bringt euch endlich in Sicherheit!«
    »Sie werden auch überleben. Ich mache mich auf die Suche nach starken Männern. Noch sind nicht alle geflohen.«
    Bowie widersprach, doch weder Johanna noch Bertrand wollte auf ihn hören. Mit vereinten Kräften schleiften sie den Schotten unter den Baum, während um sie herum die Welt aus den Fugen geriet. Mehr und mehr Menschen hasteten in Richtung der Hügel, und wenn Bertrand sie anrief und um ihre Hilfe bat, stellten sie sich taub. Es war zum Verzweifeln. Johanna blickte zum Meer, auf das sie über die Ruine des Hotels hinweg freien Blick hatte.
    Sie stutzte. Das Meer hätte die Feuersäule reflektieren müssen, doch wo sonst die glatte Wasserfläche funkelte, herrschte lichtlose Dunkelheit. In dem Moment hob ein unfassbar lautes Brausen an, übertönte sogar das Donnern des Vulkans, und dann sah sie es: Eine Wand aus Wasser türmte sich auf, bewegte sich rasend schnell auf die Küste zu. Johanna erstarrte vor Entsetzen.
    Ein Einheimischer rannte vorbei. »Der Wassergeist holt uns alle!«
    Bowie begriff als Erster.
    »Lauft!«, schrie er. »Lauft um euer Leben!«
     
    Johanna rannte, bis ihr die Lunge zu platzen drohte, bergauf, immer bergauf. Bertrand riss sie über Wurzeln und Trümmer, es galt, keine Sekunde zu verlieren, während hinter ihnen das Brausen anstieg, lauter, lauter. Menschen drängten sich auf dem Pfad, schubsten einander beiseite, versuchten, die rettende Höhe zu erreichen, den brüllenden Tod auf den Fersen. Hände griffen nach Johannas Fußgelenken, sie trat aus, dann schlug das Wasser über ihr zusammen. Sie wurde gegen einen Baum gedrückt, bekam ihn zu fassen, klammerte sich mit aller Kraft daran, reckte den Kopf. Luft! Luft! Das Wasser zerrte an ihr, fetzte ihr die Kleider vom Leib, doch sie ließ nicht los. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, und das war das Letzte, was sie spürte.

29
    3 . September 1883 , sechs Tage später
    A sche fiel auf Singapur. In dicken Flocken regnete sie aus dem Himmel und bedeckte die Welt mit einer watteweichen grauen Schicht. Eine kraftlose Sonne erhob sich über die Palmwipfel. Henry saß auf der Veranda des Hauses der Familie Robinson. Sein Körper genas, doch sein Lebensmut war ebenso erloschen wie das Licht.
    Johanna war tot. Lily war tot, Leah und ihre Familie, Ross Bowie, ausgelöscht von einer Welle unfassbaren Ausmaßes. Vor drei Tagen, als sich der Himmel über Singapur immer stärker verdunkelte, war ein französisches Kanonenboot in den Hafen eingelaufen, an Bord Männer, die in den Abgrund der Hölle geblickt hatten. Die Wasseroberfläche der Sundastraße, so hatten sie berichtet, sei bedeckt von einem lückenlosen Teppich aus Bimssteinbrocken, die der Vulkan über Tage ausgespien hätte. Hundert Kilometer weit wären die glühenden Brocken geflogen und hätten jene, die dem Wasser entkommen waren, erschlagen und verbrannt. Auf dem schwimmenden Steinteppich lägen Leichen, Tausende, Zehntausende Menschen und Tiere. Niemand hätte überlebt.
    Das Leben in Singapur erlahmte. In allen Moscheen, Kirchen und Tempeln wurden Gottes- und Götzendienste zum Gedenken der Opfer abgehalten, jedermann schien sich auf Zehenspitzen fortzubewegen.
    Aus dem Haus drang heftiges, verzweifeltes Schluchzen. Henry versuchte vergebens, seine Ohren davor zu verschließen. Mercy schrie ihren Kummer in die Welt hinaus, laut und zornig forderte sie Antworten von einem stummen Gott, dem es gefallen hatte, ihr die Freundin auf solch grausame Art zu nehmen. Ping, obwohl nicht minder verzweifelt, stand Mercy zur Seite, so wie sich der alte Geschichtenerzähler im Bungalow auf der anderen Straßenseite um Dinah und Hermann kümmerte.
    Die Verandabohlen vibrierten, weiche Schritte näherten sich. Henry sah nicht auf. Er wollte in Ruhe gelassen werden, doch der Besucher ignorierte seine abweisende Haltung und zog einen Stuhl heran. Amelia. Sie hatte sich auf das Anwesen geschlichen. Schweigend starrte er weiter in den grauen Himmel. Seit er sich bei Mercy und Andrew erholte, kam sie täglich in die Waterloo Street, und täglich hatte er sie fortschicken lassen. Sie blieb sitzen, rang die Hände in ihrem Schoß. Er spürte ihren Blick.
    »Danke«, flüsterte sie. »Danke, dass du mir das Gefängnis erspart hast. Ich war nicht bei Sinnen.« Ihre Stimme brach. Er konnte ihre Verzweiflung spüren, doch
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