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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge
Autoren: Dan Simmons
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eine Datscha bei Tolstoi oder eine Schule bei Dickens zu imaginieren, alles Orte, die aus heutiger Sicht durchaus etwas Fantastisches haben –, sondern eher der Tatsache, dass sie mit den Worten und Bildern einfach nichts anfangen konnten. Der erste Satz der »Hyperion-Gesänge« würde sich für solche Experimente in Sachen literarischer Wahrnehmung wunderbar eignen: Wer oder was ist wohl ein Hegemoniekonsul? Warum sollte ein Raumschiff einen Balkon haben? Wie kommt ein echter (nicht etwa ein nachgebauter) Steinway auf einen anderen Planeten? Und warum sollte man Dinosauriern Rachmaninow vorspielen? Und so weiter. Wenn man sich aber damit schwertut, diesen Satz, die Worte, die er verwendet, die Bilder, die er evoziert, in das Gerüst einer »Welt« einzufädeln, dann – und so geht es eben vielen mit der Science Fiction – ist man für den ganzen Roman verloren.

    Das ist schade für diese Menschen, denn sie ahnen gar nicht, was ihnen so alles entgeht, aber es sollte eigentlich nicht unser Thema sein; da Sie es bis hierher geschafft haben, hatten Sie dieses Problem ja ganz offensichtlich nicht. Nun ist es aber so, dass die Science Fiction als kulturelles Phänomen schon allein aufgrund ihres enormen Erfolges nicht zu übergehen ist, und daher befassen sich all diese Menschen an ihren Universitäten und in ihren Redaktionen und wo immer sie sich sonst noch institutionalisiert haben, all diese Menschen, die damit eigentlich nichts anfangen können, eben doch mit dem Genre und zimmern es sich so zurecht, dass sie etwas damit anfangen können. Und das geht so: Der Science-Fiction-Autor XY will eigentlich gar keine andere Welt in irgendeiner fernen Zukunft, sondern unsere Welt nur in verfremdeter Form beschreiben, und all seine Gadgets und Neologismen und Special Effects sind Allegorien, Symbole, Metaphern für vertraute Wesenheiten und Vorgänge aus der sozialen Wirklichkeit. Aus dieser Perspektive ist alles plötzlich wunderbar einfach: Da sind die Morlocks die Proletarier des englischen Frühkapitalismus; da ist der »Große Bruder« Väterchen Stalin; da versammelt sich auf der Brücke der Enterprise die UNO; da erhält das Jedi-Laserschwert einen phallischen Sinn; da symbolisiert das Shrike … Ja, was symbolisiert wohl das Shrike?
    »Wir wollen keine fremden Welten«, sagt Ulrich Tukur in Steven Soderberghs schöner Solaris -Neuverfilmung, »wir wollen Spiegel.« Spiegel für unsere Ängste und Hoffnungen im Hier und Heute; Spiegel für ein Wesen, das sich, trotz aller Aufklärung und Emanzipation und Daueranalyse, noch immer selbst ein Rätsel ist; Spiegel in Form eines Genres, das am engsten mit dem verbunden ist, was man gemeinhin als Fortschritt, also der Dynamisierung der Materie und all ihren psychopathologischen Begleiterscheinungen, bezeichnet. Die
Science Fiction also als kollektive, popkulturelle Couch. Was für ein wunderbares Missverständnis!
    Denn es geht in der Science Fiction – wenn sie sich selbst ernst nimmt, wenn sie, anders gesagt, ernst nimmt, dass sie wie jedes literarische Genre etwas Einzigartiges besitzt – tatsächlich um genau das: um fremde Welten.
    Natürlich sind Dan Simmons’ »Hyperion-Gesänge« auf den ersten Blick bestens dafür geeignet, die allegorische Sichtweise nicht nur zu bestätigen, sondern um den Text herum einen interpretatorischen Apparat zu errichten, der keinen Stein auf dem anderen lässt. Die unzähligen Bezüge – nicht nur Namen und Orte, auch ganze Handlungsstränge und Plot Points – zum Poesie-Genie John Keats, zu seinem wie im Rausch geschriebenem Werk und seinem frühen Tod; die Struktur des ersten Teils wie Chaucers Canterbury-Erzählungen oder Boccaccios Decamerone; die augenzwinkernden Anspielungen auf Literaturbetrieb und künstlerisches Schaffen, die der Action-Story einen postmodernen Hauch verleihen; ja, all die literarischen, politischen, wissenschaftshistorischen und genre-immanenten Verweise – von Churchill über William Gass, Freeman Dyson, Jack Vance, William Butler Yeats, Stephen Hawking zu William Gibson – und wunderbaren Wortschöpfungen, die Farcaster-Portale, Fatline-Nachrichten, Poulsen-Behandlungen, Schrön-Schleifen, Cybriden … Was mag sich der Autor dabei wohl gedacht haben? Worauf will er uns hinweisen? Was will er uns damit sagen?
    Diese Fragen sind mehr als berechtigt, und wenn Sie »Die Hyperion-Gesänge« so wie ich mit einem Lexikon in Griffweite gelesen haben, dann hatten Sie bestimmt auch einen
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