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Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums
Autoren: Gabriela Galvani
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wartete. Der Kerl wirkte eher wie einer vom Diebesgesindel als wie ein Fluchthelfer. Vertrauensvoll sah er weiß Gott nicht aus, konnte es deshalb ein Verräter sein? Sein Wissen um das Fehlen einer Waffe nagte an ihm.
    Doch er hatte keine Wahl.
    Stumm ergab er sich seinem Schicksal, vertraute auf Gottes Gnade und schloss sich dem Alten an, der überraschend behende durch die Pfützen humpelte, die sich auf dem Kopfsteinpflaster gebildet hatten.
    Was hätte er auch anderes tun sollen? Es gab kein Zurück. In dem Augenblick, in dem er die Rücknahme seiner Thesen verweigert hatte, war sein Schicksal besiegelt gewesen.
    »Revoca!,« hatte der Gesandte des Papstes gefordert. »Widerrufe!«
    Doch selbst die Androhung von Gewalt hatte ihn nicht geschreckt. Nie würde das verlangte »revoco« über seine Lippen kommen. Er hatte sich, ohne ein Wort zu sagen, abgewandt, den ebenso berühmten wie einflussreichen Kardinal Cajetan stehenlassen wie einen einfachen Laienbruder – und war gemessenen Schrittes weggegangen.
    Erst Stunden später war ihm die Tragweite seiner Handlung bewusst geworden. Nicht die Tatsache, dass er als Ketzer verurteilt würde, war das Schicksalhafte an seiner Handlung. Es war der Verlust der eigenen Identität. In dem Moment, in dem er den Widerruf verweigert hatte, war Frater Martinus gestorben. Es gab keinen Bettelmönch dieses Namens mehr. Er war nur noch Martin Luther, Doktor der Theologie aus Wittenberg.
    Revoco – sechs Buchstaben hatten sein Leben besiegelt.

Augsburg,
Mitte März 1555
1
    Die arme Seele im Büßerhemd lag – mehr als dass sie saß – mit ausgestreckten Gliedmaßen auf einem Stuhl vor dem Altar. Auf diese Weise erinnerte sie entfernt an den hölzernen, gekreuzigten Jesus Christus über ihr. Das blonde Haar fiel der Frau in wirren Strähnen in das zur Fratze verzogene Gesicht, ihr Kopf hing herab. Ihre Wangen waren feuerrot angelaufen, und ihr aufgerissener Mund war der Eingang zu der Hölle ihres Innersten, aus dem animalische Laute in den Chor aufstiegen, als wäre sie ein wütendes Tier, das die Gläubigen in einer blutigen Szene zerreißen wollte.
    »Ich beschwöre dich, unreiner Geist, im Namen unseres Herrn: Verschwinde und fahre aus diesem Geschöpf Gottes!«
    Die sonore Stimme des Priesters hatte es schwer, das Geschrei der Delinquentin zu übertönen. Dann versank der katholische Geistliche einen Ton tiefer in dem monotonen Murmeln, mit dem er seit Stunden seine Gebete sprach. Wie bereits etliche Male zuvor griff er in ein silbernes Gefäß mit Weihwasser und besprühte die Besessene mit dem salzigen Nass.
    Eine Kerze zischte, die von einem Tropfen getroffen worden war. Ihr Licht flackerte und warf gespenstische Schatten auf den noch jugendlichen, drallen Leib der Frau, der sich wie unter starken Schmerzen wand. Hätten nicht vier Messdiener sie bei den Schultern und Füßen gepackt, wäre die Besessene wahrscheinlich mitsamt dem Stuhl umgefallen.
    Ihr Schreien verwandelte sich in ein verzweifeltes Wimmern.
    Vielleicht wäre es das Beste für sie, wenn sie irgendwie zu Tode käme, fuhr es der Meitingerin angesichts des schrecklichen Kampfes am Altar durch den Kopf. Zumindest würde das dieser unwürdigen Prozedur endlich ein Ende bereiten.
    Christiane Meitinger saß zwischen anderen Augsburger Bürgern in einer der Kirchenbänke. Im Gegensatz zu den meisten Gläubigen zeigte sie jedoch wenig Interesse am Geschehen und senkte eher die Lider, als den Hals zu recken. Sie fand das Schauspiel entsetzlich.
    Anders die Mehrzahl der Männer und Frauen aller Schichten, die sich hinter ihrer Frömmigkeit versteckten, aber den Rosenkranz nur deshalb durch die Finger gleiten ließen, weil sie vor sensationsgieriger Aufregung nicht stillhalten konnten. Exorzismus und Dämonenkampf waren nichts Ungewöhnliches für die Menschen in dieser Stadt, auch Christiane Meitinger, geborene Walser, war mit dem Wissen darum aufgewachsen. Eher rational veranlagt und im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossen nicht sonderlich abergläubisch, hielt sie sich von derartigen Veranstaltungen jedoch lieber fern. Sie fand das alles nur demütigend und ihrer Auffassung nach ganz gewiss nicht im Sinne Jesu Christi.
    Severin Meitinger kannte ihre Meinung. Deshalb fragte sie sich unaufhörlich, warum ihr Gatte trotz ihres Protests darauf bestanden hatte, dass sie ihn zu der Teufelsaustreibung begleitete. Eine Erklärung hatte er ihr jedenfalls nicht gegeben.
    Rasch warf sie ihm einen Seitenblick zu.
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