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Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums
Autoren: Gabriela Galvani
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Ditmold war kleiner als sein einstiger Studienfreund Delius, der ihn um Haupteslänge überragte, besaß helleres Haar und einen Bart. Wolfgang setzte seine ganze Hoffnung auf das Werk des einstigen Kommilitonen, denn da in Augsburg gerade der Reichstag über die Rechte der Protestanten entschied, erschien ihm ein Buch angemessen, dessen Inhalt die Verbindung zwischen Paulus, den Thesen Martin Luthers und der Carolina Seiner Kaiserlichen Majestät aufstellte. Er war sicher, dass dieses Werk zu schriftlichen Antworten anderer Gelehrten aufforderte, die zur nächsten Buchhändlermesse erscheinen und den Verkauf von Ditmolds Buch dann noch einmal ankurbeln würden.
    Während der Lesung lehnte sich Wolfgang gegen eines der mit Folianten vollgestopften Regale, die über die gesamten Wandflächen gebaut waren, dankbar, seinen schmerzenden Rücken ein wenig entlasten zu können.
    In den vergangenen Tagen war er nahezu ständig auf den Beinen gewesen. Jede Stunde war ausgefüllt mit Erledigungen, der Bearbeitung von Registerbüchern, Aufträgen und der Kontaktpflege, dem Einkauf von Papier und neuer Bleilettern. Die Geschäfte wurden nicht nur in den Gewölben amehemaligen Kornmarkt und am Hafen getätigt, wo die Fässer mit den Buchbögen entladen wurden, sondern auch in den Schänken, was dem jungen Verleger die Nachtruhe raubte. In den Wirtshäusern herrschte während der Buchhändlermesse zwei Mal im Jahr Hochbetrieb, denn Wolfgang Delius war nicht der Einzige, der einen Handel gerne begoss. Er beließ es jedoch bei einem Schoppen Apfelwein und folgte seinen unternehmungslustigen Kunden nicht in die Freudenhäuser, wo ein regelrechter Ansturm zu verzeichnen war, zumal der Rat zu Messezeiten nicht nur die Hurerei erlaubte, sondern auch die Polizeistunde aufhob.
    An Schlaf war trotz der Abstinenz nicht zu denken, auch die restliche Nacht verlangte in der Regel Wolfgangs Aufmerksamkeit: Die Konten mussten ausgeglichen werden, was endlos scheinende Stunden kostete, in denen er die Kredite herausschrieb, die sein Vater den Buchführern zur Michaelismesse gewährt hatte und die nun fällig wurden; neue Darlehen wurden notiert, die entsprechend dem üblichen periodischen Zahlungsziel im September zurückgezahlt werden sollten. Das alles kostete Kraft, und entsprechend müde fühlte er sich, obwohl er jünger war als die meisten seiner Kollegen, aber vielleicht waren die erfahreneren den Handel, hochtrabende Gespräche, Trinkgelage und Hurerei mehr gewohnt als er. Bis zum Ausläuten waren es noch gut zwei Wochen hin – wie würde er sich wohl fühlen, fragte er sich, wenn er seine erste Buchhändlermesse als Verleger endlich hinter sich gebracht hatte?
    Bernhard Ditmolds sonore, an Vorträge gewöhnte Stimme trug dazu bei, dass Wolfgang am liebsten die Augen geschlossen und sich ganz den vertrauten Tönen hingegeben hätte, die ihn einzulullen drohten. Aus Furcht, trotz der interessanten Inhalte einzuschlafen, konzentrierte er seine Gedanken auf das Tagesgeschäft.
    Die Post hatte heute ein seltsames Schreiben aus Augsburg, adressiert an seinen Vater, gebracht. Da ihm der Absender nicht bekannt war, hatte er die Beförderungsgebühr nur halbherzig bezahlt. Im Nachhinein erschien ihm das Geld sogar schlecht investiert, denn offensichtlich handelte es sich bei dem Absender um einen Mann, der vom Wahnsinn befallen war.
    Obwohl er den Brief nicht vor sich hatte, war ihm der Wortlaut wegen seiner Eigenartigkeit vertraut, als würde er die steile Handschrift auf dem billigen Papier vor sich sehen:
    »Sehr verehrter Herr Delius,
    ohne Eure Zeit über Gebühr in Anspruch nehmen zu wollen, erlaube ich mir, mein Anliegen in Erinnerung zu rufen.
    Im Januar sandte ich ein Manuskript zu Euren Händen. Ich bat um Eure Aufmerksamkeit, und ich entschuldige mich auch für die Zeit, die ich Euch damit raube. Aber schon auf den ersten Seiten wird ein gebildeter Mann wie Ihr erkennen, um welch brisantes Werk es sich handelt. Ich bin sicher, Ihr wisst um die Wichtigkeit, vermisse jedoch Eure Antwort auf mein Schreiben. Wahrscheinlich seid Ihr erstarrt vor so viel Impertinenz.
    Das könnte ich wohl verstehen, wenn die Angelegenheit, wie ich berichtet hatte, nicht von äußerster Wichtigkeit wäre. Es geht um Leben und Tod. Ich bitte Euch um Euer Eingreifen – im Namen der gesamten Christenheit.
    Mit vorzüglicher Hochachtung
    Euer Diener Sebastian Rehm.«
    Wolfgang hatte den Nachlass seines Vaters noch nicht vollständig aufgearbeitet, da er sich
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