Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse
Autoren: Pamela Freeman
Vom Netzwerk:
tun.«
    Unwillkürlich musste er grinsen und entspannte sich ein wenig. Sie betraten ein Zimmer, welches das ganze Erdgeschoss einnahm. Der Küchenherd befand sich im hinteren Bereich, das Feuer darin loderte, davor standen ein Tisch und Stühle. Eine Tür in der Nähe des Herds führte in einen Hof hinaus, in den Ash durch ein Fenster sehen konnte. Überall brannten Lichter und erhellten das Zimmer wie am Tag. Im vorderen Bereich war ein großer, offener Raum mit einem weiteren Tisch, der mit einer Matratze und einer Tagesdecke bedeckt war. Eine gewöhnliche Matratze, keine mit Federn gefüllte, und eine Tagesdecke aus selbst gesponnener, dunkelorange gefärbter Wolle. In seinem Zimmer bei Doronit, als sie damit begonnen hatte, ihn als Schutzwache auszubilden, hatte er auch eine Tagesdecke in dieser Farbe besessen. Er betrachtete das Bett und dachte an Tagesdecken,
weil etwas in ihm ihn daran hindern wollte, die Frau anzuschauen, die auf der anderen Seite des Tischs stand. Sie anzusprechen, mit ihr zu tun zu haben, würde sein Leben für immer verändern.
    In dem Moment, als er das Zimmer betreten hatte, waren seine seherischen Fähigkeiten zu Tage getreten, hatten sich mit Macht gemeldet. Zum ersten Mal musste er sich eingestehen, wie stark seine seherische Fähigkeit geworden war. Falls es sich um eine solche handelte. Er wusste nicht, ob sich sein Leben zum Besseren oder zum Schlechteren verändern würde, nur dass es sich zutiefst und unwiderruflich ändern würde. Ash erkannte, dass die Quelle der Geheimnisse seinen Gedanken wahrnahm. Er hatte gesehen , wie sie ihn auffing, hatte die seltsam leuchtenden grünen Augen ein wenig lächeln gesehen, den Kopf ein klein wenig neigen, die kurzen, rötlich gelben Wimpern ein wenig flattern.
    »Nichts hat auf ewig Bestand, nicht einmal die Veränderung«, sagte die Quelle der Geheimnisse unvermittelt zu ihm. Dann beugte sie sich zum Tisch hinab, auf den der Mann Bramble in der Zwischenzeit gelegt hatte. Sie nahm ein kleines Messer aus ihrem Gürtel, schnitt Brambles Hemd auf und legte ihren verletzten Arm frei, der so angeschwollen und rot war, dass es so aussah, als gehöre er überhaupt nicht zu ihrem blassen Körper. Die eigentliche Verletzung durch die Wolfsklaue verschwand in der Schwellung fast. Bramble wachte kurz auf und flüsterte: »Wenn ich sterbe, sagt meiner Schwester Bescheid. Maryrose. Carlion.«
    Die Quelle der Geheimnisse nickte nüchtern, und Bramble wurde erneut ohnmächtig.
    In tiefer Bewusstlosigkeit lag sie da, war beunruhigend blass und dennoch wunderschön. Ihr Oberkörper war lediglich von Brustbändern bedeckt. Martine warf einen Blick auf Ash und fragte sich offenkundig, wie empfänglich dieser für
eine solche Zurschaustellung eines weiblichen Körpers sein würde. Das ärgerte ihn. Er behielt beide Türen und auch den großen Mann im Auge, der Bramble hereingetragen hatte. Er warf einen Blick auf die Quelle der Geheimnisse, wandte sich jedoch sofort wieder ab. Er benötigte seine ganze Aufmerksamkeit für Bramble. In einer fremden Umgebung, selbst in einer, in der man ihn willkommen geheißen hatte, konnte er seine Ausbildung als Schutzwache nicht verhehlen. Er musste sie alle beschützen. Darüber, dass Bramble wunderschön war, würde er später noch nachdenken - wenn sie überlebte.
    Die Quelle der Geheimnisse ergriff Brambles Arm und fing leise an zu singen, zwar mit der schrillen, krächzenden Stimme der Toten, doch hervorgebracht vom Körper einer Lebenden. Es hörte sich an wie sein eigener Gesang. Ash wirbelte herum und trat einen Schritt vor, aber der große Mann streckte einen Arm aus, um ihm den Weg zu versperren. Ash nahm es gar nicht wahr. Er schenkte seine ganze Aufmerksamkeit der Quelle der Geheimnisse; er brannte innerlich vor wilder Hoffnung, das Geheimnis seiner eigenen seltsamen Stimme nun irgendwie lösen zu können. Sie trug einen feierlichen Gesang aus den Grabhöhlen vor, ein Klagelied von jenseits des Grabes, schauderhaft, Gänsehaut auslösend, Übelkeit erregend. Während sie sang, kühlte sich das Fleisch auf Brambles Arm ab und verlor seine Rötung. Die roten Streifen, die sich schon bedrohlich bis zur Schulter gezogen hatten, schrumpften zusammen und verschwanden.
    Ein Teil von ihm schien zu erahnen, nur zu erahnen, was sie da sang. Wirre Wortfetzen rauschten an ihm vorbei, bevor er ihre Bedeutung gänzlich hätte begreifen können. Es ging um Kühle und um Ganzheit … aber wirklich verstehen konnte er es nicht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher