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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse
Autoren: Pamela Freeman
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abschweifen… Er ermüdete schneller, als er gedacht hatte, und erkannte, dass er diese Sache eher mit Entschlossenheit als mit Kraft durchstehen würde.
    Der Luftzug, der durch das Wasser unter ihm entstand, trocknete ihm den Schweiß auf der nackten Haut und ließ ihn frösteln. Seine Finger bluteten, und seine Füße waren zerschnitten. Warum tat ein Krampf im Zeh nur so weh ? Das hatte er nie begriffen. Der Gedanke beunruhigte ihn. Ihm wurde schwindelig. Als er einen Halt fand, auf dem sein ganzes Gewicht lasten konnte, hielt er inne und atmete ein
paar Mal tief ein und aus, um zur Ruhe zu kommen, bevor er weiterkletterte.
    Das Geräusch des tosenden Wassers wurde lauter. Die ersten Wasserspritzer erreichten seine Beine, kleine Tröpfchen, die ihn trafen und ihn kitzelten, während sie an seinen Beinen herabperlten. Dann trafen ihn größere Spritzer, und bald klatschten ihm kleine Wellen über die Füße. Der Stein hier war glitschig, und Ash bewegte sich noch vorsichtiger. Die Felswand führte senkrecht ins Wasser. Es gab keine Stelle, an der man stehen konnte. Um trinken zu können, würde er sich hinabbeugen und sich dabei um jeden Preis weiter an den Fels klammern müssen.
    Am sichersten würde es wohl sein, so weit die Felswand hinabzusteigen, dass er sich mindestens bis zu den Knien im Wasser befand. Dann würde zwar die Strömung an ihm zerren, doch er würde sich zumindest nicht so weit hinunterbeugen müssen. Ob das mutig oder närrisch war, wusste er nicht so recht, aber vielleicht begünstigte der Fluss ja Narren, denn als Ash seine Füße vorsichtig in das eiskalte Wasser gleiten ließ und ihm die Wellen gegen die Oberschenkel schlugen, fand er einen Sims, auf dem er stehen konnte. Die Strömung war viel reißender und turbulenter, als er es erwartet hatte; er geriet ins Schwanken und griff nach einer vorstehenden kleinen Felsnase, um sich sicheren Halt zu verschaffen. Hier würde er sich festhalten können, allerdings nicht sehr lange.
    Er beugte sich zur Wasseroberfläche hinunter, hielt dann jedoch inne. Einfach zu trinken, als hätte er ein Recht darauf, erschien ihm unhöflich. Was ihn erwarten würde, wusste er zwar nicht, doch er hatte das Gefühl, als müsse er zunächst um Erlaubnis fragen.
    »Meine Dame«, fragte er leise, »darf ich trinken?«
    Sofort beruhigte sich die Oberfläche des Wassers; die Strömung
zerrte nicht länger an ihm, die Wellen verebbten. Der Fluss schien innezuhalten.
    »Meine Dame, ich danke Euch«, sagte er, schöpfte mit einer Hand Wasser und führte sie sich zum Mund. Es schmeckte nach Kreide und Eisen, süß und streng zugleich, kräftig. Ihm wurde schwindelig, und panisch klammerte er sich an die Felswand. Dann spürte er, wie die Macht des Flusses ihn erreichte und ihn ins Gleichgewicht brachte.
    Vertrau mir , sagte der Fluss mit einer Stimme, wie sie Ash noch niemals vernommen hatte; es war mit Sicherheit die Stimme einer Frau, doch keine menschliche Stimme. Sie war durchwoben mit Obertönen, so als sprächen vielerlei Stimmen im Takt miteinander. Hinter dieser Stimme lag eine so verschachtelte, so vielfältige Musik, dass sie als Melodie fast nicht mehr zu erkennen war. Ash war hingerissen davon. Sein Herz quoll über, bis er meinte, er werde platzen vor Gefühl. Doch die Stimme rief keinerlei Echo hervor, und in diesem Augenblick begriff Ash, dass es die Stimme des Flusses war und er sie nur in seinem Kopf hörte.
    »Ja, ich vertraue dir«, antwortete er laut, und dies entsprach der Wahrheit.
    Sie lachte wie Glockengeläut, wie das Zwitschern von Nachtigallen, wie das Rauschen von Wasserfällen. Dann verstummte sie. Nun musste er die Klippe wieder hinaufklettern, und an die Stelle seines Schwindelgefühls trat eine wilde Neugier. Welche Gestalt hatte er angenommen? Er hatte nicht gemerkt, dass sein Gesicht sich verändert hatte. Vielleicht war jener Moment, in dem ihm schwindelig gewesen war, der Übergang zu seiner wahren Gestalt gewesen. Er wusste, dass er seinen Kopf nicht abtasten und auch keinerlei Mutmaßungen über seine wahre Gestalt anstellen durfte, bevor er diese nicht als Spiegelung auf der Wasseroberfläche gesehen hatte.

    Der Anstieg verlief schneller, war jedoch körperlich genauso anspruchsvoll. Die Kälte des Flusses hatte seinen Muskeln Kraft entzogen, und er zwang sich mit reiner Willenskraft nach oben. Schließlich nahm er das heller werdende flackernde Licht wahr, das auf die Felswände geworfen wurde. Als er den Kopf über den
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