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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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Universums stieg tatsächlich an und verlangsamte so unsere Denkprozesse.
    In der Zeit, nachdem diese Wahrheit sich herumgesprochen hatte, kam es zu einer weit um sich greifenden Panik, als die Leute zum ersten Mal mit der Idee konfrontiert wurden, dass der Tod unvermeidlich war. Von vielen wurde eine strenge Kontingentierung jeglicher Aktivitäten verlangt, um die Verdichtung unserer Atmosphäre möglichst gering zu halten. Anschuldigungen, jemand würde Luft verschwenden, hatten wütende Handgreiflichkeiten zur Folge, und in einigen Bezirken gab es sogar Tote. Die Betroffenheit über diese Todesfälle sowie die Einsicht, dass noch viele Jahrhunderte verstreichen würden, bis unser Atmosphärendruck sich dem des unterirdischen Speichers angeglichen hatte, sorgten dafür, dass die Panik nachließ. Wie viele Jahrhunderte es bis zum Druckausgleich dauern wird, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Weitere Messungen und Berechnungen werden gerade durchgeführt und ausgewertet. In der Zwischenzeit wird viel darüber diskutiert, wie wir die Zeit, die uns noch bleibt, nutzen sollten.
    Eine Sekte, die sich vorgenommen hat, den Druckausgleich umzukehren, findet viele Anhänger. Die Mechaniker dieser Sekte haben eine Maschine entwickelt, mit der sie Luft aus unserer Atmosphäre auf ein kleineres Volumen zusammendrücken. Sie nennen diesen Vorgang »Kompression«. Ihre Maschine erhöht den Luftdruck auf das Niveau, das sie ursprünglich im Speicher hatte, und diese Reversalisten kündigten aufgeregt an, diese Luft würde die Grundlage für neuartige Füllstationen bilden, die mit jeder Lunge, die dort aufgefüllt wurde, nicht nur dem Einzelnen, sondern dem Universum neues Leben einhauchen würden. Leider brachte eine genauere Untersuchung dieser Maschine ihre fatale Fehlkonstruktion ans Licht. Die Maschine selbst wird durch Luft aus dem Speicher angetrieben, und für jede Ersatzlunge, die sie auffüllte, verbrauchte sie nicht nur eine Lunge voll Luft, sondern etwas mehr als diese Menge. Sie war also nicht geeignet, den Druckausgleich umzukehren, sondern verschärfte, wie alles in der Welt, das Problem nur.
    Einige Reversalisten gaben nach diesem Rückschlag auf, aber die Sekte selbst strebte ihr Ziel unbeirrt weiter an und begann, andere Kompressoren zu entwickeln, die mit Federmechanismen oder durch das Absenken von Gewichten angetrieben wurden. Aber diese Vorrichtungen brachten keine Verbesserung. Jedes Federwerk wird von einer Person aufgezogen, die Luft in die Atmosphäre entweichen lässt; und jedes Gewicht, das sich über dem Erdboden befindet, muss von einer Person hochgezogen werden, die ebenfalls Luft in die Atmosphäre entweichen lässt. Im ganzen Universum gibt es keine Energiequelle, deren Wirken in letzter Konsequenz nicht auf dem Druckunterschied beruht, und entsprechend gibt es keine Maschine, die dem Druckausgleich entgegenwirken könnte.
    Die Reversalisten setzten ihre Anstrengungen fort, im festen Vertrauen darauf, dass es ihnen eines Tages gelingen würde, eine Maschine zu bauen, die einen höheren Druck liefert, als sie verbraucht, eine nicht versiegende Energiequelle, mit der sich die schwindende Lebenskraft des Universums wiederherstellen lässt. Ich teile den Optimismus dieser Leute nicht. Ich glaube, dass wir nichts gegen den Druckausgleich unternehmen können. Die Luft wird sich in unserem Universum irgendwann gleichmäßig verteilt haben und nirgendwo dichter oder dünner vorhanden sein als anderswo. Damit wird sie nicht mehr in der Lage sein, einen Kolben anzutreiben, einen Rotor zu drehen oder ein Plättchen Goldfolie zu bewegen. Das wird das Ende des Drucks sein, das Ende der Antriebskraft, das Ende des Denkens. Das Universum wird dann ein vollkommenes Gleichgewicht erlangt haben.
    Für manche entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass uns das Studium unserer Gehirne nicht die Geheimnisse der Vergangenheit offenbarte, sondern gezeigt hat, was uns erst noch bevorsteht. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir durchaus etwas Wesentliches über die Vergangenheit erfahren haben. Das Universum hat mit einem gigantischen Atemanhalten seinen Anfang genommen. Wer könnte schon sagen, warum das so war? Was auch der Grund gewesen sein mag, ich bin dankbar dafür, denn dieser Tatsache verdanke ich meine Existenz. Alle meine Sehnsüchte und Überlegungen sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als Luftströmungen, die auf dem allmählichen Ausatmen unseres Universums beruhen. Und solange dieses große
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