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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer
Autoren: Wolf Serno
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die Bürger von Steuer und Kriegsdienst befreit, durften Räte und Richter frei wählen, das Markt-, Brau- und Schankrecht ausüben, Bau- und Brennholz in den umliegenden Wäldern schlagen und mancherlei andere Gerechtsamen nutzen. Lediglich ein Förderzins in Höhe des Zehnten musste regelmäßig entrichtet werden.
    Dass Kirchrode blühte, war am deutlichsten an den zahlreichen prächtigen Fachwerkhäusern abzulesen, die im Stadtkern lagen. Hier, am Gemswieser Markt, standen die schönsten Bauten, liebevoll errichtet, mit reichem Schnitzwerk an Säulen, Knaggen und Balkenköpfen. Der Stolz Kirchrodes aber war das Rathaus, ein gotischer Steinbau, dessen Hauptflügel sich zum Marktplatz hin öffnete. Aus eben diesem trat Lapidius nun hervor, Freyja Säckler hinter sich. »Wir überqueren den Markt, biegen auf der anderen Seite in den Kreuzhof ein und kurz darauf in die Böttgergasse. Dann ist es nicht mehr weit«, erklärte er.
    Sie gab keine Antwort, schloss aber zu ihm auf, so dass sie nun an seiner Seite ging. Ohne auf seine Umgebung zu achten, steuerte er vorbei an Ständen, Buden und Karren. Obwohl es zu dieser Jahreszeit noch keine Feldfrüchte gab, kein Obst und auch kein Gemüse, herrschte allerorten hohe Geschäftigkeit. Kurz bevor der Kreuzhof sich vor ihnen auftat, geschah das, was Lapidius befürchtet hatte. Eine der Marktfrauen hatte die Säckler erkannt und schrie:
    »He, Leute, seht mal, wer da geht – die Hexe!«
    »Die Hexe? Welche Hexe?«
    »Freyj a Säckler! «
    »Wo? Wo geht sie? Sag doch, wo sie geht!«
    »Da ist sie doch! Seid ihr blind? Da, da!«
    »Ich denk, die ist unter die Folter?«
    Solche und ähnliche Rufe erschollen augenblicklich von allen Seiten. Nur fort!, dachte Lapidius, fasste seine Begleiterin am Handgelenk und zerrte sie unsanft zwischen den Neugierigen hindurch, rempelte gegen ein paar Schultern, trat auf verschiedene Füße und landete endlich im Kreuzhof, wo er aufatmend verschnaufte. Doch die Kunde von der frei herumlaufenden Hexe eilte ihnen voraus, Mütter nahmen ihre Kinder beiseite, alte Frauen starrten sie an, und links und rechts vor ihnen öffneten sich Fenster.
    Lapidius machte, dass er weiterkam. Fort, nur fort von diesen lüsternen Gaffern! Endlich war die Böttgergasse erreicht. Bis hierher schien die Neuigkeit sich noch nicht herumgesprochen zu haben. Sein Puls raste. Er war es nicht gewohnt, derart zu rennen. Freyja Säckler hingegen schien der Lauf nicht viel ausgemacht zu haben. Ihr Atem ging kaum schneller. »Hier wohne ich«, stieß Lapidius hervor.
    Ihr Blick wanderte über das Haus. Es war ein dreistöckiges, gepflegtes Fachwerkgebäude, dessen Oberstock und Dachgeschoss je anderthalb Fuß vorkragten, um auf diese Weise die Bodenfläche zu vergrößern. »Ihr müsst stinkreich sein.«
    Eine Stimme aus dem Nachbarhaus brüllte: »Stinkreich, harhar, stinkreich, stinkreich … das is lustich! « Sie gehörte einem Kerl, der sich weit aus dem Fenster lehnte. Er hatte ein einfältiges Gesicht und war so ungeschlacht, dass er den Rahmen zu sprengen drohte. Sein Name war Gorm. Er arbeitete als Hilfsmann bei Schlossermeister Tauflieb. »Stinkreich, harhar, stink…«, wollte er wiederholen, aber sein Blick hatte Freyja Säckler jetzt vollends erfasst. Sein Mund klappte zu, sein Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an. Lapidius vermutete, dass er von der Schönheit Freyj a Säcklers geblendet war. Eine andere Stimme, barsch und befehlsgewohnt, ertönte von drinnen:
    »Zurück an die Arbeit, Faulpelz! Aber ein bisschen plötzlich!« Sie gehörte Tauflieb.
    »Lass uns hineingehen«, sagte Lapidius. Sein Atem hatte sich einigermaßen beruhigt.
    Lapidius saß in seinem Laboratorium und war der Verzweiflung nahe. Auf dem großen Experimentiertisch, dessen eine Ecke er frei geräumt hatte, stand noch immer das Essen für die Säckler. Unberührt seit Stunden. »Du musst etwas zu dir nehmen«, sagte er zum hundertsten Mal.
    Und zum hundertsten Mal antwortete ihm nur ein verstockter Blick.
    Wieder und wieder hatte er auf sie eingeredet, doch es war ihm nicht gelungen, die Mauer ihres Schweigens zu durchbrechen. Dabei hatte er es behutsam angestellt, hatte zunächst nach ihrem Elternhaus gefragt, danach, wo sie herkäme, wie alt sie sei. Hatte sich erkundigt, ob sie Geschwister habe, ob Verwandte in der Nähe wohnten und so weiter. Sie hatte starrköpfig geschwiegen. Nur ein, zwei Male hatte sie ihm entgegengeschleudert:
    »Was gehts Euch an, lasst mich in Ruh!«
    Er
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