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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Antwort der Frage zuzuordnen, die sie selbst gerade gestellt hatte. Auch ihre Gedanken waren irgendwie, durcheinander. Es schien, als wäre der Traum noch da. Sie hatte Mühe, sich von den schrecklichen Bildern zu lösen, die sie zum allerersten Mal nun auch im Wachsein sah; nicht als Erinnerung an den durchlittenen Traum, sondern als Erinnerung an etwas, das sie wirklich erlebt hatte. Aber konnte das sein?
    »Hier«, sagte ihre Mutter. »Trink das.« Der verschwommene Schatten, als den sie die Gestalt ihrer Mutter in der Dunkelheit erkannte, bewegte sich leicht, und dann spürte Arri, wie ihr etwas Hartes an die Lippen gesetzt wurde. Gehorsam schluckte sie, verzog angewidert das Gesicht, denn der Trank war nicht nur eiskalt, sondern schmeckte auch schlecht; sie wollte den Kopf wegdrehen und gab ihren Widerstand im Grunde sogleich wieder auf, als ihre Mutter ihr mit einer entsprechenden Bewegung klarmachte, dass sie den Becher ganz leeren sollte. Als sie es getan hatte, war in ihrem Mund ein Geschmack, als hätte sie versehentlich etwas gegessen, was schon seit längerer Zeit tot war, aber die Übelkeit war verschwunden, und auch ihr hämmerndes Herz beruhigte sich zusehends.
    »Es tut mir Leid, wenn ich dich geweckt habe«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das wollte ich nicht.«
    »Das hast du auch nicht«, antwortete ihre Mutter. »Ich hätte dich ohnehin gleich geweckt. Steh auf.«
    Arri warf dem schwarzen Schatten neben sich einen schrägen Blick zu und zögerte. Es war eiskalt in der Hütte. Es musste tief in der Nacht sein. Allein der Gedanke, das warme Fell abzustreifen, ließ ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Dennoch tat sie, wie ihr geheißen, erhob sich - nun vor Kälte leicht zitternd - zuerst auf die Knie und dann vollends, und sah mit wachsender Verwirrung zu, wie auch ihre Mutter aufstand und mit schleppenden Schritten zur Türöffnung ging, die sie für die kühle Spätsommernacht mit einem Vorhang aus Biberfellen verhängt hatten, die an einigen Stellen schon kahl geworden und mit groben Stichen zusammengenäht waren.
    »Wohin gehen wir?«, fragte Arri.
    »Ich will dir etwas zeigen«, antwortete ihre Mutter. »Sei leise. Niemand darf uns hören.«
    Der Moment verlor etwas von seiner Unheimlichkeit - wenn auch nicht viel -, als Arri hinter ihr aus der Hütte trat und die Stiege hinunterging, denn es war draußen zumindest eine Spur heller als in dem Pfahlbau und erstaunlicherweise sogar spürbar wärmer. Aus dem Schatten, der mit einer körperlosen Stimme zu ihr sprach, wurde wieder der vertraute Anblick ihrer Mutter, und ihre Hände und Knie hörten ganz allmählich auf zu zittern. Dennoch wuchs ihre Verwirrung ins Unermessliche, als sie sah, dass ihre Mutter nicht den Weg zum Dorf hinauf einschlug, sondern sich in die entgegengesetzte Richtung wandte, weg von den Hütten und dem Fluss und tiefer hinein in den Wald. Hatte ihre Mutter sie nicht unzählige Male davor gewarnt, nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald zu gehen? Auch wenn sie immer noch daran zweifelte, dass hier Wölfe ihr Unwesen trieben, so bestand doch die Gefahr, sich in der fast völligen Schwärze zu verirren, in einen Kaninchenbau zu treten und sich den Fuß zu brechen, sich an einem Ast zu stechen, der sich in der Dunkelheit verbarg, oder sich auf zahllose andere Arten zu verletzen.
    Ihre Mutter glitt mit einem Geschick, das selbst Arri überraschte, zwischen dem Unterholz am Waldrand hindurch, ohne dabei auch nur den mindesten Laut zu verursachen, und für einen winzigen, aber schlimmen Augenblick war die Angst wieder da, als die vollkommene Schwärze, die zwischen den Baumstämmen lauerte, sie einfach aufzusaugen schien wie der Nebel des Steinkreises, der Sarn Schutz geboten hatte, als er sich an sie angeschlichen hatte, um sie mit seiner dürren Greisenhand zu packen. Um ein Haar hätte Arri kehrtgemacht und wäre einfach wieder zur Hütte zurückgelaufen, um sich unter ihrer Decke zu verkriechen und darauf zu warten, dass es hell wurde. Vielleicht geschah das alles hier ja gar nicht wirklich. Vielleicht schlief sie ja noch, und ihr Traum hatte sich in etwas völlig anderes verwandelt, das sie lediglich glauben ließ, wach zu sein.
    Dann aber nahm sie allen Mut zusammen und folgte ihrer Mutter (wenn auch weitaus weniger geräuschlos), während sich ihre Augen an die Dunkelheit hinter den Baumwipfeln gewöhnten. Obgleich ihre Mutter nur drei oder vier Schritte vor ihr stand, war sie nicht mehr als ein
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