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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wieder vergessen. So ist das nun einmal.«
    »Überall?«, fragte Arri. Sie zögerte einen winzigen Augenblick, raffte dann all ihren Mut zusammen und fügte hinzu: »Auch dort, wo du herkommst?«
    Diesmal verging deutlich mehr Zeit, bevor ihre Mutter antwortete. Ihre Stimme hatte sich verändert, aber Arri hätte nicht sagen können, wie. »Ich glaube schon. Vielleicht nicht ganz so wie hier, aber das ist nur natürlich.«
    »Wieso?«
    »Weil Dankbarkeit etwas ist, das man sich leisten können muss«, antwortete ihre Mutter, und das verstand Arri noch viel weniger als alles andere. Aber sie spürte auch, dass es keinen Sinn hätte, jetzt weiterzubohren. Mit ihrer Frage hatte sie gegen ein unausgesprochenes Tabu verstoßen, das zwischen ihnen galt, so lange sie sich erinnern konnte, und das besagte, dass sie niemals über die Vergangenheit ihrer Mutter sprachen. Schon, dass sie die Frage überhaupt beantwortet hatte, war außergewöhnlich.
    Ihre Mutter ließ sich wieder zurücksinken, und Arri konnte im trüben Zwielicht sehen, wie sie unter der dünnen Decke die Knie an den Leib zog, damit ihr nicht zu viel von ihrer kostbaren Körperwärme verloren ging. Im Winter, wenn es wirklich kalt wurde, schliefen sie für gewöhnlich gemeinsam auf einer einzigen Matratze aus getrocknetem und sorgfältig geflochtenem Gras und teilten sich das warme Bärenfell ebenso, wie sie sich gegenseitig wärmten, doch solange es die Temperaturen zuließen, bestand ihre Mutter darauf, dass jeder auf seinem eigenen Lager blieb. Dabei wusste Arri, wie kalt es selbst jetzt schon unter der dünnen Decke ihrer Mutter werden konnte. Sie besaßen nur dieses eine Fell. Ein Bärenfell war etwas unvorstellbar Kostbares. Nicht einmal Sarn, der Dorfälteste und Schamane, besaß eines. Die einzigen anderen Menschen, die Arri kannte und die Bärenfelle als Kleidung oder Decken besaßen, waren Nor und die Krieger seines Heiligtums, und selbst die nicht alle; der Mann, der ihn heute begleitet hatte, hatte jedenfalls keines getragen.
    »Schlaf jetzt«, sagte ihre Mutter. »Morgen wird ein anstrengender Tag.«
    Eine weitere rätselhafte Bemerkung, die eher dazu angetan war, Arris Gedanken weiter zu beschäftigen und sie wach zu halten, denn schließlich war jeder Tag anstrengend, gerade im Sommer, wenn die Nächte kurz waren und sie demzufolge weniger Schlaf bekam. Arri verkniff sich aber jede entsprechende Frage und schloss sogar die Augen, wohl wissend, dass sie ganz bestimmt keinen Schlaf finden würde - mit dem Ergebnis, dass sie beinahe augenblicklich einschlief.
    ... und sich übergangslos in einem Albtraum wiederfand.
    Sie war nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Albtraum war, aber sie wusste, dass sie träumte, denn sie träumte diesen Traum sehr oft und seit sie sich erinnern konnte; nicht jede Nacht, aber doch oft genug, dass das Wissen, sich in einer fremden Welt zu befinden, die es nur in den tiefsten Tiefen ihrer Gedanken gab, ganz allmählich seinen Weg in jene bedrückenden Gefilde zurückgefunden hatte, und sie schon wusste, was kam, als die ersten Bilder in ihrem Kopf auftauchten. Nicht genau. Der Traum war nicht immer gleich, und er erzählte auch keine Geschichte, jedenfalls keine, die sie zu erkennen vermocht hätte oder die irgendeinen Sinn ergab. Im Großen und Ganzen änderte sich jedoch nicht viel.
    Sie träumte von Feuer, das vom Himmel regnete, und da waren Schreie, ein dumpfes Poltern und Tosen und Krachen, wie das Dröhnen zusammenstürzender Berge, und der allgemeine Geruch von Panik und Flucht lag in der Luft. Verzerrte Gesichter tauchten rings um sie herum auf und erloschen wieder, bevor sie sie erkennen konnte, und irgendwie war da auch Wasser, aber eine ganz andere Art von Wasser als die, welche sie kannte. Schwarze Wellen, die sich höher als die höchsten Bäume auftürmten und schaumige weiße Kronen hatten, Wasser, das so hart wie Stein war und Boote und Häuser und Menschen gleichermaßen zerschlug, und immer wieder Schreie und grellblaue, tausendfach verästelte Blitze, die den schwarz gewordenen Himmel zerrissen.
    Ihr Herz begann zu rasen. Dass sie um die Tatsache wusste zu träumen, beschützte sie nicht vor der Furcht, mit der dieser Traum sie erfüllte. Sie glaubte Schmerz zu fühlen, nicht nur den eigenen Schmerz, sondern den eines anderen, von dem sie mit unerschütterlicher Gewissheit wusste, dass es ihre Mutter war, und Angst und eine so allumfassende Verzweiflung, dass sie im Schlaf ein leises, gequältes
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