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Die Herrin von Sainte Claire

Die Herrin von Sainte Claire

Titel: Die Herrin von Sainte Claire
Autoren: Emily Carmichael
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vor Liebe und Stolz, Gefühle, die wohl auch ihr Vater für diesen Ort gehegt hatte. Aber Liebe machte sie nicht blind für die Stellen, an denen die Mauern bröckelten oder für das armselige Häufchen ihrer Gefolgsleute, die oben auf den Zinnen Wache hielten. Und wieder wünschte sie sich, die Burg wäre so fest, wie sie aussah.
    Sie überquerte den Pfad zum Turnierfeld, als sie eine wohlbekannte Stimme grüßte.
    »Holla! Alaine!« Der älteste Knappe ihres Vaters, Garin de Longchamps, stand umgeben von jüngeren Knappen und Pagen und winkte ihr zu.
    Alaine lächelte und wandte sich in Richtung der kleinen Schar.
    »Ich dachte, Ihr wäret mit Lady Joanna beim Gottesdienst«, bemerkte Garin, als sie näher trat.
    Sie verzog das Gesicht. Wieder einmal war es ihr gelungen, den Gottesdienst zu versäumen, schon den dritten Tag hintereinander. Ihre Stiefmutter Joanna würde nicht sehr erfreut sein.
    »Und überdies« – neckte sie der Knappe in vertraulichem Ton – »stelle ich fest, daß Ihr nicht gerade passende Kleider tragt, um Pater Sebastians Gottesdienst beizuwohnen.«
    Er musterte mit abschätzigem Blick ihre wollene Tunika, die gewickelten Hosen, die schweren Lederschuhe. Diese Männertracht, die jede gesittete normannische Frau entsetzt hätte, brachte Alaines Gesicht nicht einmal zum Erröten.
    »Sogar Joanna hat es aufgegeben, eine Dame aus mir zu machen, allerdings würde sie es niemals zugeben.« Alaine lächelte spitzbübisch.
    »Das dachte ich mir schon.« Garin lachte. »Ich würde jederzeit auf Euch und gegen Joanna setzen.« Er schüttelte seinen rechten Arm aus dem Faltenwurf seines Mantels. »Möchtet Ihr Euch ein wenig im Schwertkampfe messen, da Ihr schon hier seid und ohnedies in Schwierigkeiten steckt?«
    Alaines Augen leuchteten vor freundschaftlicher Kampflust. Das wäre verlockend, die Sorgen beiseite zu schieben und sich vorzugaukeln, wieder wie in früheren Tagen die Stunden damit zu verbringen, sich zusammen mit den Knaben und jungen Männern im Waffenhandwerk zu üben. Aber bedauerlicherweise waren diese Zeiten endgültig vorbei.
    »Nicht heute morgen. Ein andermal.«
    »Andermal, hach! Wenn Joanna Euch einmal in die Finger kriegt, bringt sie Euch dazu, den ganzen restlichen Tag zu nähen und zu spinnen, oder sonstwie eine nichtswürdige Arbeit zu verrichten.« Seine Augen schweiften argwöhnisch über ihre Kleider. »Besonders wenn Ihr Euch in diesem Aufzug von ihr erwischen laßt!«
    Alaine zuckte mit den Schultern. Garins unverschämt forschender Blick ließ sie ungerührt. Das erste Mal, als er Ste. Claire betreten hatte, war Alaine erst vier Jahre alt gewesen. Er war ihr wie ein Bruder, den sie nie gehabt hatte. Sie waren zusammen aufgewachsen, sie hatten miteinander gerauft und gestritten und gemeinsam wie zwei zerlumpte Bauernbengel Streifzüge durch den Wehrturm, den Burghof und quer durch die angrenzenden Wälder unternommen. Und als Alaine das richtige Alter erreicht hatte, war sie Garin aufs Turnierfeld gefolgt. Das hatte ihr der Vater nie abgeschlagen. Im Gegenteil, sie wurde von ihm geradewegs dazu ermuntert. Mit fünf Jahren beherrschte sie ein Pferd so gut wie jeder Knabe; mit sieben Jahren begann sie mit Schwertkampf und Bogenschießen; mit zehn Jahren schließlich lernte sie mit der Lanze umzugehen. Sie verbrachte ebensoviele Stunden wie die jungen Pagen und Knappen damit zu, von der Stechpuppe Blessuren und Schläge abzubekommen, dieser tückischen Zielscheibe, die herumschnellte und demjenigen heftig in den Rücken stieß, der ungeschickt genug war, ihr keinen ganz tadellos plazierten Stich zu versetzen.
    Erst seit ihr Vater Lady Joanna zu seiner Gemahlin genommen hatte, mußte Alaine es über sich ergehen lassen, in die Frauenarbeit eingewiesen zu werden. Garin hatte sie mitleidlos darüber gehänselt, daß sie sich zusehends in die Rolle des adeligen Fräuleins einfand, was ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch tat. Letzte Woche, als ihre Welt langsam aus den Fugen geriet, wirkte sein vertrauter Spott und sein herzliches Lächeln wie Balsam auf ihre verwundete Seele.
    »Falls Ihr Euch geniert, vor den Augen dieser jungen Burschen im Schwertkampf von mir tüchtig Prügel einzustecken, werde ich so großmütig sein, Euch im Bogenschießen siegen zu lassen.« Garins Augen blitzten übermütig.
    »Ihr laßt mich siegen?« Sie lachte ungläubig. »Der Tag ist noch nicht angebrochen, an dem ich Euch nicht in diesem Wettkampf mit verbundenen Augen bezwingen
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