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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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und ging schon gähnend in den Flur voraus, während Janick noch an der Seite seines Bruders blieb.
    Als er sicher war, dass Judith sie nicht mehr hören konnte, begann er leise zu sprechen. »Sag mir die Wahrheit, können wir dieses Wesen besiegen?«
    Thomas seufzte und legte seinem kleinen Bruder eine Hand auf die Schulter. »Du hast doch gesehen, wie es sich vor Schmerz gewunden hat. Im Vergleich zu der Lichtstärke, die ich mit der Maschine noch erreichen kann, waren diese Angriffe nur Streicheleinheiten.«
    »Aber da war die Kreatur unvorbereitet und auf keinen Widerstand eingerichtet«, entgegnete Janick. »Jetzt weiß sie über unsere Waffe Bescheid und wird nicht so dumm sein, sich uns noch einmal so schutzlos auszuliefern. Sie wird die Siedlung einfach aus der Ferne zu Staub verwandeln.«
    »So weit reicht ihre mentale Kraft nicht. Nachdem wir damals das Verbannungsritual beobachtet hatten, war ich noch oft zum Monatsanfang dort unten. Die Kreatur hat immer einige Schritte in die Siedlung gemacht, um die Kieselsteine in Nahrungssäcke zu verwandeln. Sie musste es, weil ihre Wandlungskraft die Materie nur bis auf wenige Meter erreicht. Wenn sie uns angreift – voraussichtlich in Gestalt hunderter oder gar tausender Ungeheuer – wird sie nah an unser Tor heranrücken müssen. Die Kreatur wird glauben, dass wir sie mithilfe des Lichts kein zweites Mal in die Flucht schlagen können; sie wird bereit sein, die Schmerzen zu ertragen, um uns für den Widerstand büßen zu lassen. Vielleicht wird sie sogar mit geschlossenen Augen heranstürmen. Aber sie ahnt nicht, dass unsere Waffe beim nächsten Mal die zehnfache Stärke besitzen wird. Und wenn sie vor unserem Tor steht, wird sie zumindest für einen kurzen Moment die Augen öffnen müssen. Dann werden wir sie erwischen und den Spuk für immer beenden.«
    Janick atmete schwer und war von sichtlichem Zweifel erfüllt. Er schien etwas sagen zu wollen, doch fand offenbar keine passenden Worte.
    »Geh jetzt schlafen«, sagte Thomas und nahm seine Hand von Janicks Schulter. »Du sollst erholt sein, wenn es soweit ist.«
    Janick ließ noch einen Moment lang den Mund geöffnet und machte eine furchtbar schuldbewusste Miene. Und als Thomas schließlich ahnte, was er sagen wollte, kam er ihm in sanftem Ton zuvor: »Wir werden dem Biest auch ohne das Überraschungsmoment in den Arsch treten, klar? Mach dir keine Vorwürfe. Du bist wegen eines tollen Mädchens zurückgegangen und hast für sie dein Leben riskiert. Welcher Feigling könnte das von sich behaupten? Jetzt geh zu ihr und halte sie fest, okay? Und mach ihr keine Angst mit deinen Zweifeln; die sind ansteckend.«
    Janick presste die Lippen zusammen und nickte stumm; dann ging er mit gesenktem Haupt in den Flur hinaus, ohne noch ein Wort zu sagen. Und als Thomas plötzlich ganz allein im großen Kontrollzentrum stand, senkte er besorgt den Blick und flüsterte: »Mach auch mir keine Angst, kleiner Bruder.«

Der Traum vom Licht
    Erst in der Nacht zum neuen Monat schlug das Wesen die Augen auf, um gebieterisch durch die Finsternis zu ziehen – in treuer Linie der alten Tradition.
    Es erschien nicht als gewaltiges Heer, sondern wie in all den Jahren zuvor in der Gestalt von sechs Einzelwesen. Sein Blick wurde als rotes Glühen sichtbar, das nicht mehr erlosch, nachdem es einmal entfacht war: Die Kreatur blinzelte nicht, um auf diese Weise den Göttern zu gleichen. Ihre werwolfartigen Erscheinungen stürmten frontal auf die Siedlung zu, obwohl sie von dort der Widerstand getroffen hatte; sie erwägte nicht, die vermeintlich ungeschützte Rückseite oder die Flanken anzugreifen, da dies einem Eingeständnis ihrer Verwundbarkeit gleichkäme. Das Wesen stürmte in rasender Geschwindigkeit heran und fürchtete offenbar nichts.
    Aber auch die Widerständler hatten keine Angst und warteten hinter der Fensterreihe des Kontrollzentrums auf die nahenden Bestien. Ihr Mut entsprang keiner verwegenen Siegesgewissheit, sondern ging aus ihrem Willen nach Freiheit hervor. Sie hatten einen Faden geistiger Gemeinsamkeit gesponnen, der sie miteinander verband und nach so vielen Jahren der Verzweiflung endlich wieder das Hoffen lehrte. Es war ein Faden, der nicht nur die Tapfersten umfing, sondern auch all jene, die dem Widerstand zuvor nicht angehört hatten. Als die Machtübernahme bekannt gegeben worden war, hatte niemand gegen den Freiheitskampf protestiert, obwohl jedem das Recht zugesprochen worden war, seine Meinung zu
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