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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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war. Seine Statur war überaus kräftig, und seine Arme glichen Oberschenkeln. Janick erkannte ihn sofort, riss die Augen auf und sprang ungestüm von der Bank.
    »Einer der Torwächter hat sich befreit!«, rief er und stürmte auf den Mann zu. Gerade noch rechtzeitig stellte Thomas sich ihm in den Weg und hob beide Arme, um seinen kleinen Bruder zu beruhigen.
    »Keine Panik. Das ist Julian, er ist einer von uns.«
    »Nein, er gehört zur Führerschaft, glaub mir!«, widersprach Janick aufgeregt. »Ich musste an ihm vorbei, als ich in die Außenwelt aufbrechen wollte. Noch vor wenigen Tagen hat er das Tor bewacht!«
    Thomas verschränkte die Arme vor der Brust und sah seinen Bruder grinsend an; auch der stämmige Mann lächelte.
    »Auch ich musste an ihm vorbei, was alles andere als einfach war. Der Gute ist eben verantwortungsvoll und stets um jedermann besorgt« Thomas und der Mann lachten herzhaft. »Als ich Julian in mein Vorhaben einweihte, mich absichtlich von diesen Ungeheuern gefangen nehmen zu lassen, um mehr über sie zu erfahren, hielt er mich für wahnsinnig und wollte mich am liebsten in Ketten legen. Er hatte sich bereits grandios in seine Rolle als Torwächter eingefunden, vielleicht etwas übereifrig.«
    Janick verstand kein Wort. »Seine Rolle?«
    Thomas nickte. »Nachdem wir die Führerschaft überwältigt hatten, besetzten wir die Wachposten mit unseren Leuten. Die Kreaturen sollten vom Umsturz nichts ahnen und keinen Verdacht schöpfen, falls sie außerplanmäßig vor Beginn des nächsten Monats auftauchten. Du kannst dir vorstellen, wie froh wir über unsere Weitsicht waren, als dieser Fall tatsächlich eintrat. Und allem Anschein nach war Julian als Torwächter sehr überzeugend, als eines der Wesen neulich vor der Siedlung erschien und höflich darum bat, das Tor für die beiden Ausbrecher geschlossen zu halten, die auf dem Weg hierher seien.«
    Janick hob erstaunt die Brauen. »Heißt das, ihr habt die Siedlung bereits vor Wochen übernommen, noch bevor du fortgegangen bist?«
    Thomas seufzte. »Die Strapazen der Wanderung haben deine grauen Zellen ganz schön beeinträchtigt, was? Glaubst du im Ernst, die wahren Torwächter hätten uns in die Außenwelt gelassen? Denk doch mal nach, Janick. Diese Siedlung wurde nicht von Menschen erbaut, sondern die Wesen haben sie erschaffen. Die gewaltige Schlossvorrichtung am Außentor sollte nie verhindern, dass etwas eindringt, sondern dafür sorgen, dass niemand herauskommt. Als die Kreaturen damals unsere Welt versklavten und die Siedlungen erschufen, wählten sie je eine Handvoll Menschen, die ihnen als Führerschaft geeignet schien. Ihnen vertrauten sie die Aufgabe an, zu Beginn jedes Monats ein Opfer bereitzuhalten, und versprachen ihnen im Gegenzug, das Leben aller anderen zu verschonen. Dieses System hat jahrelang funktioniert. Die Auserwählten fürchteten die Kreaturen und folgten ihrem Willen, doch sie waren stark genug, um die restlichen Siedler in Schach zu halten. Nach einem halben Jahrhundert ist dies vermutlich die erste Siedlung, in der es zu einem Umsturz gekommen ist. Aber natürlich wollten wir das den Wesen bis zuletzt verheimlichen, um beim Angriff das Überraschungsmoment auf unserer Seite zu haben. Julian hat also nur geschauspielert, um den Schein zu wahren, alles klar? Glaub mir, er ist einer der tapfersten und loyalsten Männer, die ich kenne, und gehört der Widerstandsbewegung schon länger an als ich.«
    Janick verstand und sah den bärtigen Mann beschämt an, den er noch vor einer Minute gewaltsam zu Boden stürzen wollte.
    »Tut mir leid, ich hatte keine Ahnung«, sagte er und reichte ihm eine Hand.
    »Macht doch nichts«, erwiderte Julian und ergriff sie lächelnd.
    »Dann wäre das wohl geklärt«, sagte Thomas schmunzelnd. »Was gibt es denn, Julian?«
    Der kräftige Mann nickte mit abfälliger Miene zur Wendeltreppe. »Diese Halbstarken beschweren sich über zu wenig Essen; sie randalieren und schreien wie am Spieß. Wir dachten, du willst vielleicht kurz herunterkommen und es dir ansehen.«
    »Ist das zu glauben!«, rief Thomas und riss die Arme in die Höhe. »All die Jahre ließen diese Kerle uns hungern, während sie sich satt aßen und die Bäuche rieben, und lamentieren jetzt über eine mangelnde Verpflegung.«
    Er ging grummelnd auf die Wendeltreppe zu und schimpfte noch beim Hinabsteigen.
    Janick lächelte amüsiert und kroch wieder mit Judith unter die Decke. Sie nahm seine Hand und schmiegte sich eng an ihn.
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