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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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Zu jeder Stunde verblieb der Schimmer am Horizont und leuchtete ihnen ermutigend voraus.
    Es kam die Zeit, da der körperliche Schmerz die Kraft des Geistes überstieg; aber auch unter diesen Qualen bewahrten sie die Hoffnung und zwangen sich zum Weitergehen. Alles war in Bewegung, alles blieb im Fluss; und so wie der Bach immerfort strömte, so wie die Wolken ruhelos am Himmel zogen und der Wind unentwegt über das Land pfiff, so würden auch sie nicht eher stehen bleiben, bis das Ziel ihrer Reise erreicht war.
    Je weiter sie gingen, desto heller leuchtete jenes Licht in der Ferne, als wollte es ihnen zeigen, dass die Mühe nicht umsonst war. Anfangs war es ihnen als vager Schimmer erschienen, kaum mehr als ein Wunschbild, das nach einem Blinzeln wieder fort sein mochte. Nun leuchtete es so hell wie die aufgehende Sonne der alten Welt, die sich majestätisch über den Horizont erhob. Es verlieh ihrer Hoffnung eine sichtbare Gestalt, die sich durch keinen dunklen Zauber verbergen ließ.
    Ebenso real war ihre Erschöpfung; doch ihr knurrender Magen und die inzwischen leeren Manteltaschen entmutigten sie nicht.
    Sie durchlebten noch viele Male das zyklische Muster der Wanderung – schreiten, rasten, trinken und wieder schreiten –, bis das Licht der Siedlung zum Greifen nah war. Ihre Augen waren schwer und ihre Beine müde. Doch sie verspürten nach wie vor die geistige Erregung, die sie beflügelte, und würden eher im Gehen sterben als stehen zu bleiben.
    Als noch mehr Zeit vergangen war, erkannten sie die Umrisse der Siedlung, in der Janick aufgewachsen war. Sie sahen das riesige Tor und die lange Fensterreihe des Kontrollzentrums, deren helle Beleuchtung ihnen den Weg gewiesen hatte. Die Siedlung erstreckte sich weit in die Tiefe, wo sich die Wohnkabinen befanden. Judith, die ihr ganzes Leben in Höhlen und Berghütten verbracht hatte, war voller Erstaunen beim Anblick des gewaltigen Bauwerks.
    Völlig entkräftet gelangten sie ans Ziel ihrer Wanderung und blieben vor dem Außentor stehen, das wie ein gigantischer Wall vor ihnen aufragte. Mit einem erschöpften, aber glücklichen Lächeln blickten sie zur darüber liegenden Fensterreihe, in denen sie die Konturen mehrerer Personen erkannten. Janick und Judith begriffen erst in diesem Moment, dass sie den beschwerlichen Fußmarsch überstanden hatten und schon bald in Sicherheit sein würden. Freude und Erleichterung stiegen in ihnen auf; sie brachen in Jubel aus und rissen die Arme in die Höhe.
    »Hallo, wir sind hier unten!«, schrien sie und winkten den Menschen am Fenster aufgeregt zu. »Öffnet das Tor, lasst uns rein!«
    Sie lachten vor Glück und starrten erwartungsvoll auf das Tor; doch es bewegte sich nicht. Die Leute verharrten hinter dem Glas, ohne ihr Winken zu erwidern.
    »Hey, macht das Tor auf!«, riefen sie in besorgter Ungeduld. »Worauf wartet ihr? Bitte lasst uns rein!«
    Doch die Menschen dort oben rührten sich nicht, und das Tor blieb verschlossen.
    »Die können uns doch unmöglich übersehen«, sagte Judith und blickte hilflos zu Janick.
    »Sie sehen uns«, erwiderte er und starrte mit düsterer Miene zur hellen Fensterreihe.
    Judith war den Tränen nah. »Warum öffnen sie dann nicht?«
    Doch sie kannte die Antwort bereits. Und wie um ihre schlimme Befürchtung zu bestätigen, entfernten die Personen sich vom Fenster, als hätten sie das Interesse an den beiden Wanderern verloren, und schalteten das Licht im Kontrollzentrum aus. Ihr Stern, der zum Ausdruck ihrer Hoffnung geworden war, der sie angetrieben und geführt hatte, war plötzlich erloschen.
    »Nein … das können sie nicht machen«, hauchte Judith und konnte ihre Tränen kaum noch zurückhalten. »Das dürfen sie nicht!«
    Mit verzweifelter Miene wandte sie sich an Janick, der nur mutlos ins Leere starrte.
    »Sag doch was!«, schrie Judith und fasste ihn an den Schultern an, während die Tränen nun hervorkamen und über ihr Gesicht liefen. »Sie können uns doch nicht hier draußen sterben lassen! Sie müssen uns helfen! Oh Gott, bitte!«
    »Judith, hör auf!«, rief Janick und hielt ihre Arme fest. »Sie werden das Tor nicht öffnen.«
    Judith sah ihn einen Moment lang fassungslos an. Dann begann sie elendig zu schluchzen und presste ihr Gesicht an Janicks Brust.
    »Sie haben doch auch Martin hereingelassen«, sagte sie weinend. »Er war ein Rückkehrer, so wie wir.«
    Janick hielt sie fest und strich ihr zärtlich über den Rücken.
    »Martin hat die Siedler verunsichert
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