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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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und die Ordnung in Gefahr gebracht«, antwortete er. »Die Obersten waren bestimmt froh, dass er so früh verstorben ist. Vielleicht haben sie sogar nachgeholfen. Sie werden bereut haben, dass sie den Jungen in die Siedlung gelassen haben. Diesen Fehler wollen sie nicht noch einmal machen.«
    Judith wollte etwas sagen, doch sie schluchzte so bitterlich, dass sie kaum Luft bekam und kein Wort herausbrachte.
    »Wir haben uns etwas vorgemacht«, flüsterte Janick. »So wie in der Heilanstalt. Nach unserer Flucht wollten wir die Wahrheit ebenso wenig sehen wie davor. Nachdem wir die Illusion der Wesen überwunden hatten, schufen wir uns eine eigene, um Trost und Hoffnung zu finden. Es liegt in der menschlichen Natur.«
    Judith sah ihn mit verweinten Augen an und legte ihre Hand auf seine Wange. »Unsere Gefühle füreinander sind echt.«
    Janick nickte und hielt Tränen zurück. »Ja, das sind sie.«
    Er strich Judith sanft durchs Haar und drückte sie wieder an sich. So standen sie schweigsam in der Finsternis und wussten, dass es nichts mehr zu hoffen gab. Das Gefühl der Gemeinsamkeit, das aus ihren verbundenen Herzen hervorging, war der einzige Trost, der ihnen verblieben war.
    Um sie herum erschienen rote Augenpaare in der Dunkelheit und näherten sich ihnen von allen Seiten. Und mit einem Mal begriffen sie, warum die Obersten das Licht im Kontrollzentrum ausgeschaltet hatten: Die Führerschaft brachte sie den Kreaturen als Opfer dar. Doch anstatt sich über diese Unmenschlichkeit zu entsetzen und in ihren letzten Augenblicken nichts als Hass und Wut zu empfinden, richteten sie die Gedanken auf ihre noch junge Liebe, die ein letztes, helles Licht in ihrem Geist erstrahlen ließ. Sie umarmten sich noch fester und warteten furchtlos auf den Tod, während der Kreis der roten Augen sich um sie her verengte und wie eine Schlinge zuzog.

Die Achillesferse
    Die Kreaturen schlichen grunzend auf sie zu; ihre werwolfartigen Leiber traten immer deutlicher im Zwielicht hervor. Die Muskeln zuckten unter der Haut, und die Zähne blitzten im Schein ihrer glühend roten Augen. Ihre Krallen ragten aus den Klauen, und ihre Schnauzen waren durch ein hässliches Grinsen entstellt. Manche leckten sich mit einer gespaltenen Zunge die Lippen, andere speichelten türkisfarbenen Schleim, der zäh zu Boden tropfte.
    Bald umlagerten die Bestien sie so eng, dass sie den faulen Gestank ihrer Leiber rochen und ihren eisigen Atem spürten. Die Kälte der Wesen ließ sie auf andere Weise schlottern als der Wind; sie überstieg das körperliche Empfinden und drang zum tiefsten Grund der Seele vor.
    Die Kreaturen kicherten und starrten ihre eingekesselte Beute heißhungrig an. Endlich schloss eines der Wesen die Augen und verwandelte sich in einen untersetzten Anzugträger. Er hatte kurzes, gescheiteltes Haar, ein pausbäckiges Gesicht und trug eine runde Hornbrille. Janick hatte ihn noch nie gesehen, doch der Herr schaute ihn so zutraulich an wie ein alter Bekannter und schritt mit einem infamen Lächeln auf ihn zu.
    »Die Hoffnung ist eines eurer mächtigsten Gefühle und der nie versiegende Quell des Selbstbetrugs. Teilen Sie inzwischen meine Einschätzung, Herr Baumgartner?«
    Er hatte eine andere Stimme als das Wesen, mit dem Janick im Untergeschoss der Heilanstalt gesprochen hatte. Doch sie besaß den gleichen gefühlskalten Klang, ein düsteres Wispern, aus dem der Wind des Bösen wehte.
    »Ihre Hoffnung stachelte sie zu einer beschwerlichen Reise an, die Sie am Ende doch nur in die Enttäuschung führte. Von so vielem haben Sie zu träumen gewagt, Herr Baumgartner, so vieles verwegen vorausgesagt. Doch Ihre Visionen brachten sie letztlich in diese aussichtslose Lage. Ist es nicht an der Zeit, die Wahrheit anzuerkennen, die Sie neulich noch so hochgeschätzt haben? Wollen Sie nicht endlich und für immer einsehen, wie die Welt wirklich beschaffen ist, anstatt sie durch den wirren Schleier der Hoffnung zu betrachten?«
    Janick antwortete nicht und holte stattdessen die Taschenlampe aus dem Mantel hervor. Jedoch tat er es aufgrund seiner Erschöpfung so träge, dass der Herr sein Vorhaben rasch erkannte und die Lampe mit einer knappen Handbewegung zu Staub zerfallen ließ.
    »Ach, Herr Baumgartner«, seufzte der Herr mitleidsvoll, während Janicks letztes Mittel zum Widerstand als Pulverwolke zwischen seinen Fingern niederrieselte. »Begreifen Sie es immer noch nicht? Wird Ihnen nicht bewusst, dass Ihre Wünsche ebenso fern von der Wahrheit
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