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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Autoren: John Verdon
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in denen er beide Nachrichten ein halbes Dutzend Mal durchging, verfinsterte sich Gurneys Miene zusehends, und Mellerys Angst trat immer deutlicher hervor.
    »Und, was sagst du dazu?«, fragte Mellery schließlich.
    »Du hast einen cleveren Feind.«
    »Ich meine, was sagst du zu dieser Zahlengeschichte?«
    »Was ist damit?«
    »Wie konnte er wissen, welche Zahl mir einfallen wird?«
    »Aus dem Handgelenk würde ich behaupten, dass er es nicht wissen konnte.«
    »Aber er hat es gewusst! Ich meine, das ist doch der springende Punkt. Er konnte es nicht wissen, aber er hat es gewusst. Niemand hätte vorhersagen können, dass ich an die Zahl sechshundertachtundfünfzig denken werde, doch er hat es gewusst - und zwar schon mindestens zwei Tage vor mir, als er den verdammten Brief in den Postkasten geworfen hat!«
    Plötzlich stemmte sich Mellery aus dem Stuhl, um aufgeregt über das Gras in Richtung Haus und wieder zurückzutraben, während er sich mit den Händen durchs Haar fuhr.
    »So was ist doch absolut unmöglich. Es gibt keine wissenschaftliche Erklärung dafür. Merkst du nicht, wie verrückt das ist?«

    Nachdenklich stützte Gurney das Kinn auf die Fingerspitzen. »Es gibt einen simplen philosophischen Grundsatz, der nach meiner Erfahrung hundertprozentig zuverlässig ist. Wenn etwas passiert, dann lässt sich auch nachvollziehen, wie es passiert. Für diese Zahlengeschichte muss es eine Erklärung geben.«
    »Aber …«
    Gurney hob die Hand wie der ernste junge Verkehrspolizist, der er ein halbes Jahr lang beim NYPD gewesen war. »Setz dich. Entspann dich. Wir werden dieses Rätsel schon lösen.«

5
    Unerfreuliche Möglichkeiten
    Madeleine brachte den beiden je ein Glas Eistee und kehrte wieder ins Haus zurück. In der Luft hing der Geruch von warmem Gras. Das Thermometer war auf über zwanzig Grad geklettert. Eine Schar Rosengimpel ließ sich auf den Futterspendern mit Distelsamen nieder. Sonne, Farben, Düfte - all diese intensiven Eindrücke schienen an Mellery vorbeizugehen, der offenbar vollkommen von seinen Sorgen absorbiert war.
    Während sie ihren Tee schlürften, versuchte Gurney, die Motive und Aufrichtigkeit seines Gasts zu beurteilen. Ihm war klar, dass es möglicherweise zu Irrtümern führte, wenn man jemand zu früh in eine Schublade einsortierte, doch oft konnte man einfach nicht widerstehen. Entscheidend war, dass man die Fehleranfälligkeit des Vorgangs im Auge behielt und bereit war, sich zu korrigieren, wenn neue Informationen vorlagen.
    Aus dem Bauch heraus schätzte er Mellery als klassischen Angeber ein, als Blender auf vielen Ebenen, der seinen Schwindel bis zu einem gewissen Grad selbst glaubte. Seine Aussprache zum Beispiel, die er schon zu Collegezeiten gepflegt hatte, stammte aus dem Nirgendwo, von einem imaginären Ort der Vornehmheit und Kultur. Sicherlich war sie inzwischen nichts Aufgesetztes mehr, sondern ihm in Fleisch und Blut übergegangen, doch ihre
Wurzeln lagen im Reich der Fantasie. Der teure Haarschnitt, die gepflegte Haut, die makellosen Zähne, der durchtrainierte Körper und die manikürten Fingernägel - alles deutete auf einen hochkarätigen Fernsehprediger hin. Sein Auftreten war das eines Mannes, der sich gelassen in der Welt bewegte und ganz selbstverständlich in Anspruch nahm, was gewöhnlichen Sterblichen verwehrt blieb. Gurney erkannte, dass dies alles bereits vor sechsundzwanzig Jahren in Mark Mellery geschlummert hatte. Er war nur noch mehr zu dem geworden, der er schon immer gewesen war.
    »Hast du schon mal überlegt, damit zur Polizei zu gehen?«, fragte Gurney.
    »Ich glaube, das hat keinen Zweck, die unternehmen doch sowieso nichts. Was könnten sie denn schon tun? Alles lässt sich auch auf harmlose Weise erklären, es gibt keine klare Drohung, kein Verbrechen. Ich habe nichts Konkretes in der Hand. Zwei gemeine kleine Gedichte? Die könnte auch ein durchgeknallter Schüler geschrieben haben, jemand mit einem eigenartigen Humor. Und wenn die Polizei sowieso keine Maßnahmen ergreift oder, schlimmer noch, alles als Witz abtut, warum soll ich dann meine Zeit verschwenden?«
    Gurney nickte, obwohl ihn Mellerys Erklärungen nicht überzeugten.
    »Außerdem …« Mellery zögerte kurz. »Allein die Vorstellung, dass die Polizei eine richtige Untersuchung durchführt, Leute befragt, ins Institut kommt, aktuelle und frühere Gäste behelligt - manche von ihnen sind da sehr empfindlich -, überall herumtrampelt und Krach schlägt, die Nase in Dinge steckt,
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