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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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Flughafen kommend mit dem Taxi ein. Er bleibt mit seinem Koffer für einen Moment auf dem Bürgersteig stehen. Es ist Anfang April, das Wetter ist schon unterwegs in den Sommer. Hinter ihm klappert in einem jener Straßencafés in Athen, die die Modernisierungsversuche dreier Generationen überlebt haben, ein Kellner mit Gläsern und Tassen. Der Name, der noch in kursiver Schrift auf einem Neonschild prangt, weist auf Abkühlung, Eleganz, schier endlose Mengen von Zeit hin. Green Park : Am Eingang zu der Anlage müssen griechische Earls und Komtessen ihren Fünf-Uhr-Tee genommen haben, während das Orchester in der Kapelle Händel spielte.
    Der Sohn atmet den Geruch von Vegetation und Abgasen ein. Die späte Nachmittagsluft ist lau, gleichsam glitzernd, voller Verheißungen. Dann lässt er den Blick über die Straße und an dem Gebäude hinauf schweifen, in das die Eltern erst kürzlich, nach der Pensionierung des Vaters, gezogen sind. Früher war dies eine ruhige und noble Adresse, hier wohnten Familien, die das gesellschaftliche Leben der Stadt prägten und ihre Kinder auf Schulen in England schickten. Heute wird die Straße von Autos gesäumt. Auf seiner Seite halten Busse, die aus der Stadt hinausfahren, etwas weiter entfernt gibt es ein paar Zeitungskioske und einen Sportplatz. In manchen Seitenstraßen wechseln sich Copyshops ab mit Etablissements, deren rote Laternen bei Einbruch der Nacht eingeschaltet werden. Die nächste Parallelstraße ist eine breite, von Geschäften gesäumte Avenue, die an den Museen und der Technischen Hochschule vorbeiführt. Aus dem früheren Reservat ist ein Durchfahrtsgebiet geworden.
    Während der Sohn nach der richtigen Wohnung sucht – überall leere Balkone, herabgelassene Jalousien –, nimmt er aus den Augenwinkeln Bewegungen wahr. Anfangs beachtet er sie nicht weiter, aber als das Hupen immer lauter wird und die Autos blinken wie eine wütendrote Partybeleuchtung, dreht er sich um. Hundert Meter weiter steht mitten auf der Straße der Vater. Er hat gerade die Zeitungen aufgehoben, die ihm wohl heruntergefallen sind, als er sich zwischen den Fahrzeugen hindurchzuschieben versuchte. Nun verneigt er sich den Autofahrern zugewandt wie ein Dirigent, als wollte er ihnen, die Arme voller Notenblätter, für ihre Mitwirkung danken. Dann schreitet er zur anderen Straßenseite hinüber – unerwartet würdevoll, fast nachdenklich. Anschließend geht er zielstrebig, aber übertrieben energisch, wie ein Tänzer, den Bürgersteig hinab. Als er mit dem Fuß das Tor zu dem kleinen Garten vor dem Wohnhaus aufstößt, sieht er den Sohn nicht. Erst als er seinen Namen hört, dreht er sich um. Er küsst den Neuankömmling auf die Wangen, dabei mehr schlecht als recht bemüht, die Wochenendbeilagen zu ordnen. Dann tritt er einen Schritt zurück und mustert ihn.
    »Die Erinnerung macht den Geliebten kleiner. Wie groß du geworden bist.«

König Dopamin

    In der Nacht wird der Sohn von Lärm geweckt. Es klingt, als würden in einem unbekannten Gesellschaftsspiel Einmachgläser hin und her geschoben. Ab und zu scharrt ein Stuhl. Als der dritte oder vierte Versuch, wieder einzuschlafen, gescheitert ist, geht er in die Küche, um nachzusehen. Es ist drei Uhr nachts. Der Vater sitzt auf einem Stuhl vor dem offenen Kühlschrank. Die Lampe darin brennt wie eine frostige Sonne. Er isst Rote Bete direkt aus dem Glas. Den Tellern und Plastikdosen auf der Arbeitsfläche nach zu urteilen, hat er sich zuvor bereits die Reste des Abendessens einverleibt und beabsichtigt nun, das morgige Mittagessen in Angriff zu nehmen. Als er den Sohn sieht, beschwert er sich über die Hitze in der Wohnung und erklärt, nichts kühle einen so ab wie ein offener Kühlschrank. Er zupft am Kragen der Pyjamajacke, fächelt sich Luft zu. Dann greift er nach einer Bierdose und zeigt auf das übriggebliebene Stück Schnitzel. »Bedien dich! Bedien dich!«
    Den nächsten Tag verbringt er im Bett. Bruchlandung.

Repressalien

    In den letzten Jahren hat der Vater immer häufiger Albträume. Sie sind fleischiger als alles, was er in seinem Leben je erlebt hat – giftig, gemein, regelrecht böse. Er erklärt, es fühle sich an, als fänden sie wunde Punkte, die nicht einmal seine Frau kenne. Wahrscheinlich sind die Medikamente Auslöser der Träume. Die Pulvergötter können es nicht lassen, für die Ruhe, die sie in den wachen Stunden des Tages verbreiten, Tribut zu fordern.
    Trotzdem sind es nicht die Enthauptungen, die Reptilien
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