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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben
Autoren: Ingrid Noll
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der Brief war.
    »Von Vater«, sagte Carlo.
    Nun wurde ich nervös, riß den Bogen aus dem Umschlag und las.
     
    Mein lieber Sohn, wenn ich mich richtig erinnere, hast du heute Geburtstag - warum hatte er sich nie an meinen Geburtstag erinnert? - Denke nicht, ich hätte Euch vergessen. Doch voller Scham muß ich gestehen, daß aus meinen Plänen, mir eine Existenz aufzubauen, nichts geworden ist. Jahrelang habe ich gehofft, daß meine Bilder eines Tages verkauft würden. Wahrscheinlich wird das erst nach meinem Tod der Fall sein, und Ihr seid dann die lachenden Erben. Karin hat sich von mir getrennt - wer um alles in der Welt war Karin? -, ich lebe einsam und zurückgezogen, habe von Jahr zu Jahr mehr Gebrechen und leide unter mißlichen Umständen. Aus reiner Not habe ich die entwürdigende Stelle eines Blutboten angenommen. Wie gern hätte ich Dir ein großzügiges Geschenk zukommen lassen, aber glaube mir, daß ich so manchen Abend ohne Mahlzeit ins Bett gehe. Ich schreibe Dir in dem Wissen, daß mir nicht mehr viele Jahre bleiben. Ich wünsche, daß Maja und Du mir verzeiht und in Liebe an Euren alten Vater zurückdenkt.
     
    »Na?« sagte Carlo.
    »Was ist ein Blutbote?« fragte ich.
    Er zuckte mit den Schultern. Wir sahen uns ratlos an.
    »Wo wohnt er?« fragte ich, sah aber selbst, daß kein Absender angegeben war. Wir betrachteten den Stempel: Bremen, entzifferten wir. »Unser armer Vater«, sagte ich leise.
    Carlo rümpfte die Nase. »Sag eher: unsere arme Mutter! Erst haut er mit einer anderen Frau ab, zahlt fast nie Unterhalt, und nun kommt so ein Bettelbrief!«
    »Aber er sagt doch gar nicht, daß er etwas will, wir wissen noch nicht einmal, wo er lebt.«
    Carlo ging an Mutters Schreibtisch und entnahm ihm ihre Bankauszüge. »Letztes Jahr hat er im April einen kleinen Betrag geschickt, das weiß ich zufällig«, sagte er. »Ich müßte eigentlich den Überweisungsauftrag finden, wahrscheinlich steht auch seine Adresse darauf.«
    Mutter hatte Ordnung in ihren Papieren, und Carlo war als Banklehrling geübt im Sortieren. Schnell fand er, was er suchte. Die Anschrift war tatsächlich mit einem Stempel auf das Formular gedruckt. Vater wohnte in Lübeck, nicht in Bremen. Zum zweiten Mal sahen wir uns unschlüssig an. Mit Mutter konnte man über den verschwundenen Vater nicht reden, sie lehnte es ab, uns in irgendeiner Weise Auskunft zu erteilen.
    »Wir müssen ihn besuchen«, sagte ich.
    »Hat er uns je besucht?« fragte Carlo. »Hat er je zuvor an uns geschrieben - zu meinem Abitur, zu Weihnachten -, hat er sich je erkundigt, ob wir überhaupt noch leben?«
    Ich schwieg. Carlo haßte ihn, aber er bekam ein bescheidenes Gehalt, er konnte eher helfen als ich. Geld hatte ich noch nie gestohlen, vielleicht war jetzt die Zeit dafür gekommen. Oder sollte ich Vater Care-Pakete mit gestohlenen Lebensmitteln schicken? Ich verfiel ins Grübeln.
    Carlo schreckte mich auf. »Wir sagen Mutter erst einmal nichts über diesen Brief und reden später weiter. In einer Stunde kommen die Gäste, jetzt wird gekocht.«
    Schweigend versteckte ich die gestohlenen Delikatessen unter meiner Bettdecke, stiftelte Emmentaler, entkernte Weintrauben und tat geistesabwesend alles, was Carlo mir auftrug.
    Als seine Freunde kamen, war ich in Gedanken nicht bei der Sache. Ich hatte mich eigentlich gefreut, Carlos neuen Freund aus der Bank kennenzulernen, von dessen Intelligenz er ständig berichtete; aber jetzt sah ich diesen Detlef kaum an. Ich dachte nur an Vater. Sicher, ich hatte schon lange befürchtet, daß er arm war, denn sonst hätte er vielleicht Geschenke für mich geschickt. Ein Künstler wird oft erst nach seinem Tod geschätzt, das sagte er zu Recht. Wenn er sich nicht gemeldet hatte, so geschah dies aus Scham. Aber warum schrieb er ausgerechnet an Carlo und nicht an mich, wo ich seine Prinzessin gewesen war?
    Er ist kein Maler mehr, er ist Blutbote, dachte ich mit einem Schauder. Ein furchtbares Wort, das an Dracula erinnerte und mit dem ich nichts anfangen konnte.
    Dann trafen zwei weitere Freunde von Carlo mit ihren Mädchen ein, und wir setzten uns zum Essen: Carlo neben Cora, ich neben Detlef. Gern hätte ich Cora von Vaters Brief berichtet, aber in Gegenwart dieser heiteren Gesellschaft konnte ich nicht reden. Wir tranken Rotwein und aßen, es wurde erzählt und gelacht. Schließlich gelang es mir, Cora in mein Zimmer zu dirigieren. Ich hob die Bettdecke auf, Cora sah den Champagner und sagte in ihrer praktischen Art:
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