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Die Häupter meiner Lieben

Die Häupter meiner Lieben

Titel: Die Häupter meiner Lieben
Autoren: Ingrid Noll
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ausmacht, ist er entzückt und versucht, mich mit einem Augenzwinkern oder Lächeln auf diese interne Sehenswürdigkeit aufmerksam zu machen. Er ist sentimental; kinderreiche Familien, weißhaarige Omas und knittrige Neugeborene können seine Aufmerksamkeit vom Straßenverkehr ablenken und ihn zu spontanen Sympathiebekundungen verleiten.
    Ich bin anders, und bei den Pärchen habe ich Probleme. Was soll Schönes an diesem dümmlichen Anhimmeln, der kritiklosen Einigkeit und geschmacklosen Anfasserei sein? Andererseits weiß jeder, daß diese Phase nicht von Dauer ist, und das tröstet mich. Vielleicht beruht meine Empfindlichkeit aber auch darauf, daß ich neidisch bin und nicht gerade stolz auf meine eigenen Affären (Romanzen waren es nie). Neulich sah ich eine Sechzehnjährige, die mit ihrem gleichaltrigen Freund wie ein altes Ehepaar auf Bildungstourismus machte. Scheußlich. So war ich zum Glück nie gewesen.
     
    Als ich sechzehn war, hatte ich immer noch keinen Liebhaber, dafür endlich eine Freundin. Sie wurde die wichtigste Person in meinem Leben.
    Cornelia kam als Neue in die Klasse. Sie gehörte zu jenen, die von allen Menschen angestarrt werden. Nicht weil sie von auffallender Schönheit war (obgleich sie keinen Makel hatte), sondern weil sie eine unerhörte Konzentration und Authentizität verkörperte.
    Cornelia betrachtete die Klasse eine Woche lang und wurde ihrerseits ebenso beobachtet. Sie beteiligte sich locker am Unterricht, plapperte häufig Unsinn, hatte auch geniale Einfälle und schämte sich nie, ehrlich zu gestehen, wenn sie keine Ahnung hatte. Man war fasziniert von ihr und begann, um ihre Gunst zu buhlen.
    Doch Cornelia schlug alle Angebote aus und wandte sich entschieden und nachdrücklich mir zu. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Der Himmel schenkte mir eine Freundin mit Pfeffer, Witz und Phantasie, mit roten Haaren und unverfrorenem Benehmen. Cornelia stammte aus feinster Familie. Ihr Vater war Professor für Sinologie und, wie ich später feststellen konnte, die Kultur in Person. Fast nach jedem Satzteil schob er ein prononciertes »nicht wahr« ein und sprach wie ein Lehrbuch. Man nannte sie zu Hause »Cora«. Ein chinesischer Student hatte sogar einmal »Miss Cola« gelispelt.
    Cora erzählte mir, daß man sie mehr oder weniger aus ihrer bisherigen Schule herausgeschmissen hatte, weil sie sich hinter den Theaterkulissen (von ihr für eine Schulaufführung entworfen) mit dem Kunstlehrer geküßt hatte. Nicht zum ersten Mal. Aber bei jenem verhängnisvollen Kuß waren der Direktor, die Schulsekretärin und ein Referendar unfreiwillig Zeugen geworden. Cornelia lachte darüber. Auch der Lehrer mußte übrigens die Schule wechseln.
    Cora wollte Malerin werden und zeigte mir ihre riesigen, auf Packpapier gemalten Werke. Ihre Bilder waren originell und gekonnt; trotzdem gefielen sie mir nicht immer, weil Cornelia einen leichten Hang zu ekelerregenden Objekten zeigte. Um ihr zu imponieren, gestand ich ihr meine Kleptomanie. Sie war entzückt, fand es allerdings unrentabel, nach dem Aufwand des Stehlens die Beute wegzuwerfen. Im Schnellverfahren ließ sie sich von mir in die Kunst des Diebstahls einweihen. Beim ersten Mal nahm ich vor ihren Augen im Kaufhof einen scharlachroten Lippenstift. Sie aber wollte eine Herrenkrawatte. Ich stahl zwei Schlipse aus dem Drehständer, dezent gestreift, und wir trugen sie fortan im Unterricht. Meiner Mutter sagte ich »von Coras Bruder«, während Cora das gleiche zu Hause vorgab. Auf diese Weise kleideten wir uns nach und nach individueller ein. Gefällige Teenagerkleidung mochten wir nicht; alles mußte den Touch des Außergewöhnlichen haben. Wir besaßen Hosenträger und langbeinige Unterhosen, Metzgerberufskleidung und Trauersachen.
     
    Eines Tages gab es im Museum eine Ausstellung chinesischer Porzellane. Zur Eröffnung hielt Coras Vater vor geladenem Publikum eine Rede. Wir sollten die artigen Töchter spielen, Sekt einschenken, Blätterteigspiralen oder Lachsbrötchen herumreichen.
    Mit halbem Ohr hörte ich den kultur- und sherrydurchtränkten Vater sprechen. »Seladongrün« war das einzige Wort, das mir im Kopf herumging. Was war das? Cora zeigte mir nachsichtig einige viereckige und runde Gefäße mit einer milchig-blassen, fremdartig graugrünen Glasur, in die ich mich sofort verliebte.
    »Cora, ich muß diese seladongrüne Schale haben!« Meine Freundin nickte. Kein Zögern, keine Skrupel.
    »Warte, bis die Leute aufbrechen. Wir helfen
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