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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Tempeln von Kajuraho. Doch seit diesen scheinbar wollüstigen Zeiten hat Indien sich unaufhörlich auf einen immer strengeren Puritanismus hin entwickelt. Im zeitgenössischen indischen Film küsst man sich nicht einmal auf den Mund. Zweifellos unter dem Einfluss des Islam auf der einen und unter dem des englischen Viktorianismus auf der anderen Seite. Aber ich bin überzeugt, dass es auch einen genuin indischen Puritanismus gibt. Aber reden wir lieber davon, wie es vor gar nicht so langer Zeit bei uns aussah, ich spreche hier von den fünfziger Jahren, als ich Student war; ich erinnere mich, dass wir uns ins Untergeschoss einer Buchhandlung am Boulevard de Clichy, Ecke Rue Germain-Pilon, begeben mussten, um erotische Bücher zu finden. Das ist kaum fünfzig Jahre her. Da brauchen wir uns gar nicht aufzuspielen!
     
    U. E.: Das ist genau das Prinzip des »Enfer« in der Bibliothèque nationale in Paris. Es geht nicht darum, die Bücher zu verbieten, sondern darum, sie nicht jedermann zur Verfügung zu stellen.
     
    J.-C. C.: Es werden im Wesentlichen Werke pornographischen Charakters sein, solche, die gegen die guten Sitten verstoßen, die das »Enfer« der Bibliothèque nationale ausmachen. Die Bibliothek selbst wurde unmittelbar nach der Revolution gegründet, ausgehend von beschlagnahmten Beständen aus Klöstern, Schlössern, von bestimmten Privatleuten, einschließlich der königlichen Bibliothek. Das »Enfer« musste warten bis zur Restauration, als der Konservatismus wieder auf der ganzen Linie triumphierte. Mir gefällt die Vorstellung, dass man eine Sondergenehmigung braucht, um die Bücherhölle zu betreten. Man meint, es sei leicht, in die Hölle zu kommen. Überhaupt nicht. Die Hölle ist verriegelt. Es kommt nicht jeder hinein. Die neue Nationalbibliothek, die Bibliothèque François Mitterrand, hat übrigens einmal eine Ausstellung mit diesen Büchern aus dem »Enfer« organisiert, das war ein großer Erfolg.
     
    J.-P. DE T.: Haben Sie dieses »Enfer« besucht?
     
    U. E.: Wozu, wenn alle Werke, die es enthält, mittlerweile publiziert sind?
     
    J.-C. C.: Ich habe es nicht besucht, nur teilweise, und zweifellos enthält es Werke, die wir, Sie und ich, gelesen haben, aber in raren bibliophilen Ausgaben. Und der Fundus besteht nicht nur aus französischen Büchern. Die arabische Literatur hat zum Thema auch etliches beigetragen. Es gibtEntsprechungen zum Kamasutra im Arabischen und auch im Persischen. Aber wie Indien, das wir bereits erwähnten, scheint die arabisch-moslemische Welt ihre heißblütigen Ursprünge vergessen und aufgegeben zu haben zugunsten eines unerwarteten Puritanismus, der den Traditionen dieser Völker in keiner Weise entspricht.
    Doch kommen wir zurück auf unser französisches 18. Jahrhundert: Das ist fraglos das Jahrhundert, in dem die illustrierte erotische Literatur aufkommt, die, scheint mir, zwei Jahrhunderte früher in Italien entstanden ist und Verbreitung findet, wenn auch in klandestinen Ausgaben. Sade, Mirabeau, Restif de la Bretonne werden unter dem Ladentisch verkauft. Das sind Autoren, die pornographische Bücher schreiben wollen, und dabei mehr oder weniger variantenreich die Geschichte eines jungen Mädchens erzählen, das vom Lande kommt und sich in sämtliche Ausschweifungen der Hauptstadt verstrickt sieht.
    In Wahrheit handelt es sich dabei um maskierte vorrevolutionäre Literatur. Zu jener Zeit stellte der Erotismus in der Literatur tatsächlich eine Störung der guten Sitten und der frommen Gedanken dar. Er war ein direkter Angriff auf die Sittsamkeit. Hinter diesen Szenen von Orgien glaubt man Kanonendonner zu hören. Mirabeau war einer dieser erotischen Autoren. Der Sex bewirkte ein soziales Erdbeben. Diese Verbindung zwischen Erotik, Pornographie und einer vorrevolutionären Situation gab es nach der im eigentlichen Sinn revolutionären Phase natürlich nicht mehr in der gleichen Weise. Man sollte ja nicht vergessen, dass die wahren Liebhaber solcher Praktiken unter der Schreckensherrschaft auf eigene Gefahr und Risiko eine Kutsche mieteten und zur Place de la Concorde fuhren, um einer Enthauptung beizuwohnen, wobei sie sich gelegentlich während der Fahrtim Wagen oder auf dem Platz selbst eine kleine Orgie genehmigten.
    Sade, eine unerreichte Größe auf diesem Gebiet, war Revolutionär. Aus diesem Grund kam er ins Gefängnis, nicht wegen seiner Schriften. Wir müssen es noch einmal mit allem Nachdruck sagen: An diesen Büchern konnte man sich wirklich
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