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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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schwillt an, dröhnt wie ein Bohrer in meinem Kopf.
    Plötzlich schrecke ich hoch und weiß genau, dass ich in Mentorium bin.
    Mir ist kalt.
    Mir ist kalt, weil jemand ein gezacktes Loch in die Fensterwand gehauen hat, im Mondlicht sehe ich überall auf dem Boden die Glassplitter liegen. Vorsichtig steige ich aus dem Bett, um nicht auf die Scherben zu treten, als mich plötzlich Federn am Kopf streifen.
    Dunkle, feuchte Federn schwirren durch den Raum.
    Ich lege schützend den Arm über die Augen, da trifft mich etwas von der anderen Seite. Sie kommen durch die Fenster geflogen, sie kommen von überall her. Eine Schar Vögel. Sie flattern aufgeregt, das Wasser von ihren Flügeln taucht mich in einen Sprühnebel. Im Zwielicht erhasche ich einen Blick auf ihre rosafarbenen Füße und ihr purpurgraues Brustgefieder.
    Tauben. Mein Zimmer ist voller fliegendem Ungeziefer. Ich greife nach meinem Stuhl, um die Vögel dorthin zurückzujagen, wo sie hergekommen sind, als sie plötzlich zu sprechen anfangen – alle gleichzeitig, mit einer dunklen Stimme, in einer Art Singsang. Wie ein Chor, der direkt in meinem Kopf erschallt – wie das Krächzen des Kakerlaken im Hof oder wie das Pfeifen der Spinne im Arztzimmer, nur dass es diesmal Hunderte von Stimmen sind, die gleichzeitig erklingen. Und ich höre genau, was sie sagen.
    * Kester Jaynes, wir sind zu dir gesandt worden .*
    Dem Chor mangelt es allerdings ein wenig an Gleichklang. Denn als die meisten zu Ende gesprochen haben, höre ich eine sehr hohe, verspätet einsetzende Stimme, deren Worte noch viel weniger Sinn ergeben als die vorigen.
    * Ja, Kester Jaynes, du bist zu uns gesandt worden .*
    Ihre Köpfe, ihre, wie mir scheint, hundert Augenpaare und ihre Schnäbel schwenken in perfekter Übereinstimmung in meine Richtung. Hundert Tauben, wenn nicht mehr, und sie alle sind in meinem Zimmer.
    * Kester, wir wissen, dass du uns verstehst .*
    Es stimmt. Ich kann sie verstehen. Aber ich begreife nicht, wie und warum.
    * Du kannst zu uns sprechen. Lass deinem Geist freien Lauf. Lass uns hinein, Kester. Lass uns deine Gedanken hören .*
    Ich will aber niemand hineinlassen. Die Vögel flattern in dem blassen blauen Licht. Die meisten von ihnen sind dunkelgrau und weiß gefleckt. Nur eine weiße Taube ist darunter, mit rosafarbenen Füßen und orangeroten Augen. Neunundneunzig dunkelgraue Tauben und eine einzige weiße mit hoher Stimme. Eine Taube, die die Worte nicht richtig sprechen kann. Wie ich.
    * Kester Jaynes, es ist Zeit *, sagen die neunundneunzig grauen Tauben.
    * Kester Jaynes, hast du Zeit? *, fügt die eine weiße Taube hinzu.
    * Du hast eine besondere Gabe. Nur du kannst uns retten .*
    * Ja. Wir haben eine besondere Gabe nur für dich .*
    Mich beschleicht der Verdacht, dass ich durch die lange Isolation langsam den Verstand verliere.
    Und dann, ohne dass ich es mir recht überlege, entstehen plötzlich Wörter in meinem Kopf.
    Ja, Wörter – richtige Wörter.
    Nach sechs langen Jahren, sechs Jahren, in denen ich kein einziges Wort gesprochen habe. Und jetzt, so als wäre es erst gestern gewesen, so als wären wir immer noch im Krankenhaus, als würde Ma immer noch dort liegen, kehren die Worte zu mir zurück.
    Die letzten Worte, die ich zu Ma gesprochen habe. In der Nacht, als sie …
    Sie lag da und sah mich an, eigentlich sah sie eher an mir vorbei, und dabei hielt sie meine Hand ganz zart, so als kostete es sie bereits große Anstrengung, auch nur die Hand auf meine zu legen. Ihr Atem ging stoßweise, ihre Haut war gelb – und so sagte ich nur den einen Satz.
    »Kommst du zurück?«
    Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Dann sagte sie – nein, sie flüsterte es so leise, dass ich mich zu ihr beugen musste, so nah, dass ich ihren Atem riechen konnte, süß und schal zugleich: »Sag Pa …« Eine Pause, ein tiefer Atemzug. »Sag Pa, dass er es dir erklären muss.«
    Was, das sagte sie nicht.
    Die Tauben picken nach mir …
    * Kester! Kester! Du musst uns retten! *
    Ma verschwindet, zurück bleiben nur ihre Worte – sie entstehen in meinem Kopf, kreisen darin, pulsierende Töne, die zueinanderfinden wollen.
    Dann herrscht Stille. Ich denke nach und versuche zu sprechen.
    * Ja, Kester, rette dich vor uns! *, piepst die weiße Taube. Die grauen Tauben schütteln den Kopf und picken die weiße so heftig, dass sie krächzend von meinem Bett fällt.
    Aber irgendwie hilft mir das. Ich begreife, dass ich
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