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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke
Autoren: Michael Moorcock
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ist das Ufer erreicht, und die Männer nehmen Tallows schlaksigen Körper sanft in die Arme und legen ihn auf eine Bahre mit Rädern, die auf sie wartet. Sie schieben die Bahre zu einem großen Turm hin, der die anderen Gebäude überragt. Eine Stunde später wacht Tallow in einem Bett auf und sieht seine Retter, die staunend um ihn herumstehen.
    Er ist unfähig, seine Lage zu erfassen, ist verwirrt. Die Leute, die ihn umgeben, sind stumm; ihre Augen sind voll Mitgefühl. Einer von ihnen, der Mann, der Tallow als erster sah, fragt: »Möchten Sie, daß wir Ihnen helfen?« »Nein«, erwidert Tallow spontan.
    »Dann können Sie sich hier erholen, bis Sie weiterziehen
möchten. Wenn Sie es wünschen, können Sie aber auch länger
bleiben.«
»Wo bin ich?«
    »In der Stadt Melibone«, antwortet der Mann. Er sieht seine Begleiter an, aber die zucken die Schultern. Sie haben nicht das Gefühl, daß sie hier etwas tun können. »Wo ist das?« »Im Inland, fünfzig Meilen vom Meer entfernt.«
    »Das Meer. Es ist so nah. Das wußte ich nicht. Sagen Sie mir
–« Tallow richtet sich mühsam im Bett auf, und seine Augen
wirken angestrengt. »Haben Sie eine Barke vorbeikommen
sehen? Eine goldene Barke?«
»Oft. Sie suchen sie?«
»Ja.«
»Sie sind nicht der erste.«
»Das nehme ich an.«
    Der Mann ist hilflos. Er kann sich nicht mit Tallow verständigen, kann keine Worte der Warnung finden, die Tallows Geist beeinflussen. Er bleibt nach innerem Kampf schließlich stumm. Inzwischen sind Tallows Gedanken wieder auf Wanderschaft, und auch er versucht, dem Mann etwas zu sagen. »Ich habe Sonnenuntergänge gesehen und auch die Sterne. Ich habe fröhliches Wasser und den Tanz der Vögel gesehen, die durch die Luft wirbelten.« Tallow redet unaufhörlich, kann sich aber nicht verständlich machen. Er möchte diesen Leuten etwas mitteilen, ist jedoch unfähig dazu. Die Worte fallen ihm nicht ein. »Ich habe all diese Dinge in einem Jahr gesehen, und nie zuvor.«
    Die Leute an dem Bett sind unschlüssig. Ihre Augen starren beunruhigt auf Tallow, starren sich gegenseitig an. Sie starren die ganze Zeit über, und Tallow möchte ihnen etwas mitteilen, das er nicht aussprechen kann. Er plappert weiter.
    Die Leute sind auch beunruhigt. Ihr Gesetzbuch, ein fremdartiges, beinahe unmenschliches Gesetzbuch, untersagt ihnen, sich in das Schicksal eines Menschen einzumischen. Es sind jedoch freundliche Menschen, die ihm helfen möchten. Sie hoffen, Tallow werde sich entschließen, bei ihnen zu bleiben. Sie wissen aber auch, daß das unwahrscheinlich ist.
    »Ich bin allein und doch eingekreist. Ich bin kein Individuum. Ich bin ein Blinder, der gesehen hat, ein Tauber, der gehört hat, und doch bin ich immer noch dumm, so dumm wie eh und je. Warum muß das so sein? Hat jeder Mensch dieses Schicksal, oder ist es mein persönliches Schicksal allein? Selbst die Visionen sind nicht mehr klar, die Klänge verschwommen. Muß ich meine Tage in Schweigen und Finsternis verbringen, wenn ich mir Licht und Worte der Wahrheit wünsche und erhoffe? Zu viele Fragen. Den ganzen Fluß entlang waren es zu viele. Wenn ich nur meinen Kurs eingehalten hätte. Aber kann man es mir vorwerfen? Nein. Ja. Ich bin beides, und sie auch. Ach Gott, wo bin ich?«
    Tallows Geist ist von Gedanken überwältigt, die aus den Tiefen langsam aufsteigen. Noch nie erschlossene Gefühle und Emotionen, nie erforschte, nie analysierte, branden jetzt auf, und das Gehirn kann sie nicht beherrschen, da es nichts von ihrer Anwesenheit ahnte.
    Die Leute verlassen nacheinander den Raum und lassen Tallow allein, der weiter wütet.
    »Weshalb? Ob ein Hund auch so leidet? Nein, es sind die Leiden eines Kindes. Eines Kindes, das zu rasch erwachsen wurde, zu plötzlich, um die Einzelheiten zu verdauen, das zu stolz war, um die Warnungen der anderen zu beachten. Aber hatten die anderen, irgendeiner von ihnen, recht? In jener er sten Stadt war ich wütend. Sie nahmen mir meine persönlichen Rechte, und jetzt weiß ich, daß es keine Rechte des Individuums gibt, nur Pflichten. Vielleicht, wenn ich geblieben wäre – nein, nein. Aber was ist mit Miranda? Hätte meine Sehnsucht erfüllt werden können, wäre sie in einem Leben mit Miranda verwirklicht worden, durch das Kind, das sie von mir hatte? Möglich. Es war besser. Und Zhist, hätte er mir helfen können? Nein. Miranda, Miranda, warum habe ich sie getötet? Warum? Und Mesmers, möglicherweise Mesmers? Mesmers und Miranda, sie hätten helfen
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